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Vorfahrt für die Jugend

Das Tor zum Glück

Der folgende Text stammt aus der Feder von Lisbeth Riedel (Foto). Im Rahmen des Schreibwettbewerbs „Wanted: Junge Autor*inn*en“, initiiert von der Stiftung Herzogtum Lauenburg, belegte sie damit den dritten Platz in der Altersgruppe der Zwölf- bis 16-Jährigen.

Hallo, mein Name ist Einstein. Aber ich habe noch viele andere Namen. Einer der schlimmsten ist „Schnuckelchen“! Wer nennt einen ehrwürdigen Goldhamster schon Schnuckelchen? Ach, ihr wusstet nicht, dass ich ein Hamster bin? Naja, jetzt schon. Ich wohnte im Norden Afghanistans in einer fünfköpfigen Menschenfamilie, die mir treu ergeben war. Hä? Warum lacht ihr? Natürlich waren sie mir treu ergeben. Immerhin kümmerten sie sich um mich, seit ich denken konnte. Mein Leben war perfekt: morgens ausschlafen, kuscheln, fressen, Mittagsschlaf, fressen, kuscheln, kuscheln, kuscheln, schlafen. Perfekt! Bis mich Mali, die Älteste der Familie, ein 13 oder 14-jähriges Mädchen mit schwarzen Haaren, auf mein Futter warten ließ. Ich roch den Geruch des Essens der vom Basar in der Nähe zu mir herüberschwebte. Mein Magen knurrte.

Ahhhhhh! Ich schrak zusammen. Vor lauter Hunger hatte ich den Jüngsten der Familie übersehen! Dreijährig, klein und selten dumm. Er packte mich und hob mich hoch. Hilfe! Polizei! Überfall! „Wau wau!“, rief der Knirps. Ok … Drei Jahre alt und kann noch nicht mal den Unterschied zwischen einem räudigen Köter und einem ehrwürdigem Hamster wie mir erkennen? Ein weiterer Beweis, dass wir Hamster klüger sind als Menschen. Zum Glück kam in diesem Moment Mali ins Zimmer und rettete mich aus den Klauen ihres Bruders. Mann, war ich froh sie zu sehen! Obwohl ich eigentlich sauer auf sie hätte sein müssen, weil sie mein Fressen vergessen hatte. Sie schickte ihren Bruder fort und setzte mich zurück in meinen Käfig. Aber etwas war anders als sonst. Sie wirkte heute so seltsam und ernst. Zum Glück fing sie bald an zu reden. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich sie verstand. „Weißt du, Hamsti, irgendwie ist jetzt alles anders als früher.“ Hä? Das verstand ich nicht. Was meinte sie nur? „Mein Vater hat gestern mit mir gesprochen.“ Na und? Das ist doch normal! „Er sagte, ich sei jetzt erwachsen.“ Also bitte. Das Kind war erst dreizehn oder vierzehn. Ein Alter, in dem Hamster übrigens schon längst erwachsen sind. „Er meint, ich müsse heiraten! Ich weiß, jedes Mädchen muss irgendwann heiraten, aber ich hab den Typen noch nie gesehen. Wie soll ich den dann lieben? Aber Papa lässt da nicht mit sich reden! In zwei Monaten soll die Hochzeit stattfinden, und dann soll ich zu ihm ziehen! Ich fühl mich so schlecht!“ Ok … Ich wusste, dass es in Afghanistan und vielen anderen Ländern Sitte ist, Mädchen sehr früh zu verheiraten. Im Unterbewusstsein wusste ich auch, dass Mali früher oder später heiraten musste, aber darüber hatte ich bisher noch nicht nachgedacht. Ich überlegte, welche Folgen das für mich haben könnte, und nach einigem Hin und Her hatte ich eine Liste im Kopf:

  1. Malis Futterdienst war beendet. Mich würde jemand anderes füttern (hoffentlich nicht Malis Monster von einem Bruder).
  2. Es gab einen weniger, der Lärm machte (positiv).
  3. Ich hatte mehr Platz in Malis Zimmer (vorausgesetzt, die lassen mich aus meinem Käfig).

Alles in allem war die Hochzeit also gar nicht so schlimm. Von mir aus konnte Mali ruhig heiraten. Drastische Nebenwirkungen gab es für mich ja nicht. Später stellte sich heraus, dass es doch Nebenwirkungen für mich gab. Sogar ganz gewaltige!

Zwei Monate später

Uuuuaaah! Wer störte mich da beim Schlafen? Was soll der Lärm? Ach so. Mali und ihre Mutter standen im Zimmer. Mali in einem weißen Kleid. Ihre Mutter legte ihr aufgeregt einen Schleier über den Kopf. Mali lächelte gequält, während ihr Kopf verschwand. Hatte ich was verpasst? Ach nein, stimmt ja! Heute war Malis Hochzeit! Als die beiden endlich das Zimmer verließen, konnte ich wieder schlafen. Von der Trauung und der Hochzeitsfeier bekam ich also nichts mit. Ich war auch nicht scharf drauf! Höchstens auf die Hochzeitstorte wäre ich eventuell scharf gewesen. Aber wer nahm schon einen Hamster mit zu einer Hochzeit? Während die Feier stattfand, richtete ich mich auf die nächsten Jahre ohne Mali ein. Umso erstaunter war ich dann, als Mali spät abends ins Zimmer stürmte und rief: „Ich hätte dich fast vergessen! Du kommst doch mit! Du bist schließlich mein Hamster!“ Was? Das war doch wohl ein Witz! Doch mir blieb keine Zeit zum Nachdenken, denn schon hatte sie meinen Käfig gepackt und rannte mit ihrer Mutter zu einem bereitstehenden Auto und wir fuhren los. Ich schaute zurück zu dem Haus, das immer kleiner wurde. Das Haus in dem ich aufgewachsen war und mein ganzes Leben verbracht hatte. Auf einmal bekam ich eine riesige Wut auf Malis Eltern und die des Ehemannes. Denn ich wusste, dass in meiner Heimat die Eltern bestimmen, wer wen heiratet. Aber in diesem Moment konnte ich nichts anderes tun, als zu warten. Als wir angekommen waren, erwartete uns ein vierzigjähriger dicker Mann mit schlechten Zähnen. Vielleicht der Vater vom Bräutigam. Aber ich wurde bitter enttäuscht, denn es war Malis Ehemann! Glaubt mir, unter dem Begriff ‚Traumtyp‘ stellte ich mir was anderes vor!

Einige Zeit später

Die letzte Zeit war ein Alptraum. Ein mindestens ebenso großer wie Malis Ehemann selbst! Auch wenn Mali am Anfang nur meine Bedienstete war, langsam machte ich mir wirklich Sorgen um sie! Diese ganze Misere kam eigentlich daher, dass Malis Mann ein Trinker war. Spät abends, wenn sich Mali schlafen legen wollte, kam er nach Hause und war betrunken. Deshalb konnte Mali nicht mehr richtig schlafen. Sie war mittlerweile total verändert: Früher war sie ein fröhliches, fleißiges Mädchen gewesen – doch nun? Es schien, als hätte das Leben für sie keinen Sinn mehr. Sie hatte dunkle Augenringe und weinte oft und viel. Entweder aus Müdigkeit, einfach so, oder weil ihr Mann sie schlug. Und er schlug sie oft. Meist, wenn er betrunken war. Wenn Mali vor Schmerz laut aufschluchzte, ging mir das durch Mark und Bein.

Weil Mali und ihr Mann sich kaum um mich kümmerten (der Mann war sich zu fein dafür und Mali hatte ohnehin zu viel zu tun), lief ich frei in der Gegend herum. Auf einem meiner Streifzüge fand ich etwas, was unser Leben verändern könnte. Womit ich Mali helfen könnte! Beflügelt von dieser Entdeckung rannte ich heimwärts. Als ich angekommen war, rief ich aufgeregt: „Mali, Mali, du musst sofort mitkommen!“ Ich gestikulierte wild: „Ich hab etwas entdeckt! Ein Helfershaus! Da kannst du hin! Die werden dir helfen! Komm jetzt!“ Doch sie tätschelte mir nur den Kopf und sagte: „Ach, ist unser kleiner Ausreißer wieder aufgetaucht. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht!“ Stimmt ja: Menschen können unsere Sprache nicht verstehen! Außerdem war Malis Mann zu Hause. Schlechtes Timing also. In den nächsten Tagen bot sich leider auch keine Gelegenheit, Mali zum Helfershaus zu bringen. Und so hatte ich Zeit, einen Plan zu entwickeln: Mali besaß ein sehr schönes Medaillon, das ihr sehr viel bedeutete. Dieses Medaillon war der Schlüssel zum Erfolg! Am folgenden Nachmittag packte ich das Medaillon mit den Zähnen und zog es möglichst auffällig an Mali vorbei. Natürlich sprang sie sofort auf und wollte mir die Kette wegnehmen, aber darauf hatte ich nur gewartet. Ich flitzte los durch die Stadt, über den Basar, Richtung Helfershaus. Als ich das Tor erreicht hatte, legte ich die Kette davor und wartete auf Mali. Da kam sie, nahm die Kette und wollte wieder verschwinden, doch dann stockte sie. „Jugendschutzzentrum“, las sie langsam. Eine Frau kam aus dem Tor. „Kann ich dir helfen?“, fragte sie Mali. „Wolltest du zu uns?“ „Ja, äh, nein! Mein Hamster hat mich hergeführt. Wo bin ich hier?“ „Dein Hamster? Interessant! Na ja. Du bist hier vor dem Tor zum Jugendschutzzentrum. Wir helfen Kindern, die in Not sind.“ „In Not? Allen Kindern in Not?“ „Ja, allen, denen wir helfen können. Brauchst du auch Hilfe?“ „ Ja, vielleicht“, murmelte Mali. „Komm erst mal herein. Wir trinken eine Tasse Tee und du kannst mir alles erzählen. Ich heiße Jasza. Ich bin hier Sozialarbeiterin. Deinen kleinen Freund kannst du übrigens mitnehmen.“ Und Mali nahm mich auf ihre Schulter und ging hinter Jasza her. Durch das Tor zum Glück!

Epilog

Wenn mich jemand fragen würde: „Haben diese Ereignisse dich verändert?“, würde ich sagen: Ja, das haben sie! Früher war Mali für mich nur meine Bedienstete. Ich hatte alles, was ich brauchte, und deshalb war es mir nie in den Sinn gekommen, dass es anderen Lebewesen nicht so gut gehen könnte wie mir. Erst Malis Geschichte hat diese Einbildung verdrängt. Viele Menschen und Hamster sind so wie ich: Sie sind weder absichtlich ignorant noch wollen sie so sein. Und deshalb sollten sie etwas von der Gewalt gegen Frauen und Kinder in vielen Ländern hören. Damit sie etwas ändern können. Denn Mali ist kein Einzelfall. Und nicht alle haben so viel Glück wie sie. Apropos: Mali ist mittlerweile sogar Klassenbeste! Sie darf wieder die Schule besuchen, lebt im Jugendschutzzentrum und hat ihre Lebensfreude wieder.

Lisbeth Riedel