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Novemberrot – ein Essay von Helge Berlinke

1918.  Noch so ein runder Geburtstag, der zum Rückblick einlädt. Wer will, kommt aus dem Gedenken gar nicht mehr raus. Es gab und gibt immer genügend Tote, an die man erinnern kann. Nur – wen interessiert es? Und wenn es interessiert, wer versteht es? In einer Welt, die von den Trumps, Putins, Orbans und Erdogans regiert wird, beschleicht einen in diesen Tagen das Gefühl, dass es nicht allzu viele sind. Das kollektive Gedächtnis scheint mancherorts ausradiert. Andererseits: Aufgeben ist keine Option. Ohne Gedenken verkäme auch die demokratische Gesellschaft zur vergessenen Geschichte.

1918 also. Das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg zu Ende geht. Ausgelöst haben ihn letztendlich ein übler Mix aus Nationalismus, Größenwahn und Gier. Es braucht nur die Ignoranz und Dummheit der Regierenden, um die Lunte zum Glimmen zu bringen. Im August 1914 ist es soweit. Und die Völker Europas? Berlin ist eine Wolke. Die Masse ist begeistert, jubelt dem Inferno entgegen. Nicht anders ist es in Paris, London oder Wien.

Vier Jahre und 10 Millionen Tote später sieht es anders aus. Ob Soldaten oder Zivilisten – die Menschen haben die Schnauze voll von dem Gemetzel, möglich gemacht durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Kein Kanonenfutter mehr sein – davon träumen insbesondere die deutschen Einheiten an der Westfront. Die Männer sind physisch und psychisch am Ende. Wracks in Uniform. Ausgemergelt und ausgehungert sehen sie sich seit dem Kriegseintritt der Amerikaner einer menschlichen und materiellen Übermacht gegenüber.

Der Schriftsteller Erich Maria Remarque hat die Lage der Soldaten in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ eindrücklich beschrieben: „Sommer 1918 – nie ist schweigend mehr ertragen worden als in dem Augenblick des Aufbruchs zur Front“, schreibt er. Und weiter: „Die wilden und peitschenden Gerüchte von Waffenstillstand und Frieden sind aufgetaucht, sie verwirren die Herzen und machen den Aufbruch schwerer als jemals.

Sommer 1918 – nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als in den Stunden des Feuers, wenn die bleichen Gesichter im Schmutz liegen und die Hände verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch! Nicht jetzt noch im letzten Augenblick.“

Die deutschen Soldaten wissen, was los ist. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Feind die Front durchbricht. Im Oktober entscheidet die Marineführung schließlich, die Entscheidungsschlacht mit den Briten herbeizuführen. Womit sie nicht rechnen: Den Matrosen reicht es – sie halten das Vorgehen für sinnlos, wollen nicht noch im letzten Augenblick sterben und verweigern massenhaft den Befehl. In Kiel üben sie den Schulterschluss mit der Arbeiterschaft und gründen einen Arbeiter- und Soldatenrat. Von der Fördestadt breitet sich der Aufstand aus und mündet in der Novemberrevolution.

Am 9. November 1918 ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstages die Republik aus. Einen Steinwurf entfernt proklamiert der Spartakist Wilhelm Liebknecht im Hof des Stadtschlosses „die freie sozialistische Republik Deutschland“. Es ist der Auftakt eines politischen Machtkampfes zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Liebknecht und seine Parteigenossen wollen die Revolution weiter anheizen und streben eine Räterepublik an. Die Sozialdemokraten unter der Führung von Friedrich Ebert fürchten, die Kontrolle über die Masse zu verlieren und ersuchen in dieser Stunde um Hilfe beim Heer. Wieder fließt Blut. Die Revolution wird niedergeschlagen. Der Publizist Sebastian Haffner* hat die Sozialdemokraten dafür später des Verrats bezichtigt, weil sie das Bündnis mit den kaisertreuen Militärs eingingen.

Warum „verrieten“ Ebert und seine Mitstreiter die Revolution? Waren sie nicht selbst Marxisten? Waren sie nicht gerade deshalb von Wilhelm II. drangsaliert worden? Ebert, so heißt es, habe sich davor gefürchtet, dass die Räte Lenins Vorbild folgen und Deutschland in einen bolschewistischen Staat umwandeln. Eine Furcht, die – wie die aktuelle Forschung zeigt – offensichtlich unbegründet war. Die Mehrheit der Menschen, die damals auf die Straße gingen, lehnten das sowjetische Modell ab**.

Dennoch entschied Ebert, die Revolution niederzuschlagen und bürdete damit dem neuen Staat eine schwere Hypothek auf. Die Toten und die begrabenen Träume der Aufständischen machten die Weimarer Republik, den ersten demokratischen Staat auf deutschen Boden, für einen Großteil der politischen Linken zum Hassobjekt, das es zu bekämpfen galt. Die politische Rechte wiederum haderte mit der Abdankung des Kaisers und der Weltkriegsniederlage. Sie sehnten sich ins Kaiserreich zurück.

Stellt sich die Frage für den Betrachter, ob da angesichts des blutigen Endes irgendetwas war, an das es sich zu erinnern lohnt? Die Antwort lautet ja. Als Erstes wären die Matrosen zu nennen, die sich dem Weiter-So des sinnlosen Mordens widersetzten. Vor ihrem Mut gilt es sich zu verbeugen. Und dann sind da noch all jene, die für Menschlichkeit und eine solidarische Gesellschaft auf die Straße gingen und dafür ihr Leben riskierten.

Zu gedenken ist auch jenen, die in Lenin ein Vorbild sahen. Irren ist schließlich menschlich und die Irrtümer des Sowjetkommunismus waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgebraucht. Ähnlich ließe sich für all die Konterrevolutionäre argumentieren. Auch sie waren Gefangene ihrer Zeit. Nur: Ein Recht auf Unrecht zu bestehen, wie es viele von ihnen taten, das gibt es nicht. Mord bleibt Mord.

Helge Berlinke

Veranstaltung und Ausstellung zur Novemberrevolution:

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/10/15/geburtsstunde-der-demokratie-2/

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/10/15/der-traum-von-freiheit-und-einheit/