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Nördlich der A24

„Es gibt noch Geschichten zu entdecken“

Wie alle anderen Museen im Kreis Herzogtum Lauenburg bleibt auch das Grenzhus in diesen Tagen geschlossen. Vorerst bis zum 19. April. Mitarbeiter, die ihre Arbeiten von zu Hause aus erledigen können, hat Leiter Andreas Wagner ins Homeoffice geschickt. Ungeachtet dessen steht – Corona hin oder her – eine Ausstellung zum Barber-Ljaschtschenko-Abkommen auf der Agenda. Dieser Vertrag führte dazu, dass im November 1945 Ziethen, Mechow, Bäk und Römnitz den britischen Besatzern und später dem Kreis Herzogtum Lauenburg zufielen. Im Tausch erhielten die Sowjets die lauenburgischen Gemeinden Dechow, Groß und Klein Thurow sowie Lassahn. Dieser Handel ging von den Briten aus, die dafür strategische Gründe anführten. Deutschland war seit Mai 1945 – nach der Kapitulation des Nazi-Regimes – von Briten, Russen, Franzosen und Amerikanern besetzt. Kulturportal-Herzogtum.de sprach mit Grenzhus-Leiter Wagner über das Abkommen und den Stand der Ausstellungsrecherchen, die – wenn möglich – im Frühsommer abgeschlossen werden sollen.

Kulturportal-Herzogtum.de: Herr Wagner, was ist der Anlass, das Barber-Ljaschtschenko-Abkommen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien zum Thema zu machen?

Andreas Wagner: Der Anlass ist der 75. Jahrestag. Die beteiligten Ämter Gadebusch, Rehna, Zarrentin und Lauenburgische Seen haben in Erinnerung an diesen Gebietsaustausch ein Projekt gestartet. Es geht darum im Sinne der Völkerverständigung aus dieser Geschichte zu lernen und Aktivitäten zu entwickeln. Das Grenzhus beteiligt sich an der Entwicklung einer Sonderausstellung. Wir sind jetzt dabei und sammeln Material.

KP: Sie suchen auch nach Zeitzeugen…

Wagner: Zeitzeugen zu finden, ist schwierig. Es gibt aber noch die Kinder, die Erinnerungen haben – also diejenigen, die damals Kinder waren. Jedoch werden bei den Nachforschungen die Arbeit in den Archiven im Mittelpunkt stehen. Erstaunlich ist, dass bisher kaum die britischen und russischen Aktenüberlieferungen unter die Lupe genommen wurden. In den überlieferten deutschen Aktenbeständen findet sich zwar der Vertragstext, die Übersetzung, und es gibt einzelne Dokumente, die auf das Zusammenspiel zwischen der britischen Besatzungsmacht und den deutschen Verwaltungsstellen hinweisen. Da werden dann sozusagen die Befehle der Briten umgesetzt. Aber es gibt bisher keine Kenntnisse sowohl über das Zustandekommen des Vertrages bei den Briten als auch bei den Russen. Das Abkommen ist ja durch die Militärs verhandelt worden und da wäre es wichtig, auch in Unterlagen Einblick zu nehmen, die etwas über die internen Abläufe sagen. Also: Wie kommt dieses Abkommen überhaupt zustande? Wann beginnen die Verhandlungen? Wer spricht da mit wem? Welche Interessen leiten die Offiziere? Behalten die Besatzungsmächte die ausgetauschten Territorien weiter im Blick?

KP: Kommen Sie da so ohne Weiteres an die Akten ran?

Wagner: Der Aktenzugang in Großbritannien ist möglich. Bei den Russen sind jedoch wegen der verschärften Einschränkungen bei der Archiv-Nutzung große Hürden zu überwinden.

KP: 75 Jahre liegt das Abkommen zurück. Hat man sich denn nie auf westdeutscher und auf ostdeutscher Seite Gedanken über die Aufarbeitung gemacht? Nach der Wende wäre beispielsweise eine gute Gelegenheit dafür gewesen.

Wagner: Es ist so, dass es in der Aufarbeitung der Geschichte einen eindeutigen Schwerpunkt in Schleswig-Holstein gibt. Da sind die Erinnerungen regelmäßig dokumentiert worden. Auch in den Verwaltungsarchiven ist das sehr gut belegt. Das Kreisarchiv Herzogtum Lauenburg, mit dem wir eng zusammenarbeiten, hat 2005 eine Broschüre rausgegeben, wo Erinnerungsberichte publiziert sind. Was bis 1990 nicht dokumentiert wurde, ist die Geschichte der Dörfer, die in die sowjetische Besatzungszone kamen, die waren ja nahezu leer. Da gibt es noch Geschichten von den Menschen zu entdecken, die in diese Dörfer gekommen sind und diese Dörfer ja neu entwickelt haben – unter den Bedingungen des Grenzgebietes. Es gibt da – das war für uns ziemlich überraschend – eine ziemlich große Zahl von Sudetendeutschen, die da angesiedelt wurden. Für Dechow ist das gut dokumentiert. Das Dorf pflegt heute eine Partnerschaft mit der tschechischen Gemeinde Ostašow, woher die Neusiedler 1945/46 herkamen.

KP: Ich komme noch mal auf die Zeitzeugen zurück. Sie sprachen von Menschen, die zur Zeit des Abkommens Kinder waren. Haben Sie da jemanden ausfindig machen können?

Wagner: Wir haben mit dem 1931 in Schlesien geborenen Jochen Friedrich sprechen können, der als Jugendlicher in das Dorf Hakendorf gekommen ist. Am 2. Januar 1946 zog die Familie in ein leerstehendes Haus dort ein.

KP: Gibt es noch weitere Zeitzeugen? Sie hatten ja einen Aufruf gestartet?

Wagner: In Greifswald gibt es noch jemanden. Ansonsten haben sich zwei Familienangehörige mit Objekten oder Material gemeldet.

KP: Das ist nicht allzu viel.

Wagner: Das ist richtig. Wir hoffen darüber hinaus, Informationen oder Hinweise auf Geschichten zu bekommen. Wo wir neue oder wieder verschüttetet Dinge entdecken, ist in den Archiven. Da gibt es doch einiges, was in dem Gesamtzusammenhang bisher noch nicht aufgearbeitet ist.

KP: Interessant ist, dass die Menschen aus den Gemeinden, die dem Osten zugeschlugen wurden, in Scharen ihre Heimat verlassen haben. Dabei gab es noch gar keine DDR und das Ende des Krieges lag bereits ein halbes Jahr zurück. Woran lag das? 

Wagner: Da kommt vieles zusammen. Der wichtigste Beweggrund ist sicherlich die Angst vor dem „Russen“. Über Jahre wurde durch die NS-Ideologie die Feindschaft gegenüber den „slawischen Untermenschen“ und den Bolschewisten propagiert. Hinzu kamen die Berichte der Flüchtlinge, die von der brutalen Besetzung durch die Rote Armee erzählten. Viele gehen wahrscheinlich auch in dem Glauben, dass das nur zeitlich begrenzt ist. In den Quellen wird auch von Zusicherungen gesprochen, in Schleswig-Holstein eine Landwirtschaft übernehmen zu können – auch wenn nicht so klar ist, ob das auch passiert ist oder nachher so erinnert wurde. Entscheidend ist aber die große Angst vor den Sowjets. Das wandelte sich aber dann.

KP: Inwiefern?

Wagner: Irgendwann merken die evakuierten Menschen dann, dass sie in der ungeheuren Menge der Flüchtlinge und Vertriebenen einfach untergehen. Im ganzen Kreis* sind Ende der 40er Jahre 70.000 Flüchtlinge unterzubringen. Wir sprechen hier gerade von 1.800 Menschen. Trotz vieler verwandtschaftlicher Kontakte finden nicht alle Unterkunft und Arbeit, ganz zu schweigen von einem Landwirtschaftsbetrieb. Das Schicksal der sogenannten „Schaalseebauern“ beschäftigt mehrmals Politik und Verwaltung im Kreis Herzogtum Lauenburg. Es gibt sogar einzelne Leute, die gehen 1947 wieder zurück in Osten.

KP: Den eisernen Vorhang gab es ja noch nicht. Deutschland war vom Krieg zerstört. Die Wirtschaft lag in Ost und West gleichermaßen danieder.

Wagner: Die Menschen wissen nicht, wie sich die Verhältnisse zukünftig entwickeln werden. Weder die Entwicklungen in den einzelnen Besatzungszonen noch die deutsche Teilung waren damals vorauszusehen. Im Rückblick sieht heute vieles ganz zwangsläufig aus, doch das war es nicht. Die Menschen haben damals überlegt, wo kann man besser überleben. Und geleitet haben sie Gefühle wie Angst oder wie sich die Nachbarn entscheiden.

KP: Was bedeutete der Gebietstausch für die Bundesrepublik und die DDR?

Wagner: Die Wirkungen reichen bis in 90er Jahre hinein – bis in den Prozess der deutschen Einheit. In der BRD gab es eine lange Auseinandersetzung um das unter den Sowjets aufgeteilte Bodenreformland. Die DDR hat versucht, das 1967 mit einem Film propagandistisch zu nutzen. 1952 gab es einen Grenzzwischenfall, wo DDR-Grenzpolizisten die Grenzschranke Richtung Westen verlegten. Dann verhandelten Russen und Briten, wie dieser Zwischenfall zu lösen ist, nicht DDR und BRD. Die Demarkationslinie zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg war im Abkommen nicht so klar festgelegt. Für die Briten und die Russen war das ja eher eine Marginalie. Auch für die 1973 gegründete deutsch-deutsche Grenzkommission spielte das noch eine Rolle.

KP: Gibt es weitere Besonderheiten?

Wagner: Die Kirchengemeinden Ziethen und Ratzeburg blieben beim mecklenburgischen Kirchenkreis. Lassahn gehörte weiterhin zum lauenburgischen Kirchenkreis. Heute frage ich mich, wie das während der DDR-Existenz mit dem Grenzsperrgebiet umgesetzt wurde. Darüber geben jedoch noch einzusehende Akten Auskunft.

KP: Herr Wagner, ich danke Ihnen für das Gespräch.

*Kreis Herzogtum Lauenburg