Noch so ein Leben, das so früh zu Ende gegangen ist. Viel zu früh. Weil andere es so wollten. Das Schicksal meinte es nicht gut mit Selma Meerbaum. Die Nazis steckten sie 1942 in das Zwangsarbeiterlager Michailowka. Dort starbt die 18-Jährige. Unterernährt, ausgezehrt – an Fleckfieber.
Dass Menschen sich an sie erinnern, hat mit ihrer Liebe zur Poesie zu tun. Selma schrieb Gedichte. Auf Zetteln, die sie zu einem Buch zusammenheftete. Kurz vor der Deportation gelang es ihr, diesen Band mit Gedichten einem Fremden in die Hand zu drücken.
Fast 80 Jahre danach hat dieses Stück Literatur nun auch André Erlen erreicht. In gedruckter, verlegter Form versteht sich. Erlen ist ein Theatermann und künstlerischer Leiter der Gruppe Futur3. Maren Simoneit habe die Gedichte bei einem kreativen Austausch plötzlich auf den Tisch gelegt, erinnert er sich. Simoneit ist Dramaturgin an der Neuen Bühne Senftenberg. Die Gedichte kamen auf den Tisch, weil die Möglichkeiten einer deutsch-ukrainischen Theaterproduktion ausgelotet wurden.
Selma ist in Shernowicz geboren. Damals Rumänien. Heute liegt der Ort auf ukrainischem Hoheitsgebiet. Das junge Mädchen wächst in einem kulturellen Schmelztigel auf, der letztendlich vom Krieg überrollt und zerstört wird. Ein Historiker, so Erlen, habe für die Bukowina – das ist die Region, in der Shernowicz liegt – den Begriff „Global Bukowina“ entwickelt. „In der Erinnerungskultur steht Selma Meerbaum zwischen allen Stühlen.“ Selma ist jüdisch – und sie spricht und schreibt Deutsch. In der Ukraine werde ihr Werk gerade erst entdeckt, so Erlen.
„Ich war sofort Feuer und Flamme für die Gedichte“, erinnert er sich. Das Resultat dieser Begeisterung kann das Publikum nun erstmals bewundern: Am Freitag, 2. Juli, und Sonnabend, 3. Juli ist im kleinen Theater Schillerstraße (kts, Geesthacht) das Stück „Ich will leben“ zu sehen. Das Konzept und das Bühnenskript dafür hat Futur3 entwickelt. Und: Für die Umsetzung hat das freie Kollektiv tatsächlich ein deutsches und ein ukrainisches Theater an Bord: die Freie Bühne Senftenberg und das Teatr Lesi aus Lviv (Lemberg).
Auf der Bühne wird dann auch Deutsch und Ukrainisch gesprochen. „Wir haben es aber so aufgezogen, dass man beide Seiten versteht.“ Inszeniert ist das Stück als eine Hommage an das Leben und die Jugend. Die Selma, die auf der Bühne zu sehen ist, lässt sich von der aufziehenden Katastrophe nicht die Laune verderben. Sie möchte auch feiern und fröhlich sein können. Um das darzustellen, bedient sich das Ensemble bei den Techniken des Poetry Slam. „Es ist ein Abend mit Musik, der sehr leicht ist – dann aber auch die Tragik, die dahinter liegt, nicht ausspart“, sagt Erlen, der Regie geführt hat.
Das Stück versucht mit Fantasie, das kurze Leben Selmas zu erzählen. Erlen spricht in diesem Zusammenhang von einem „großen Sich-Vorstellen-Müssen“, weil es nur wenig Aussagen über sie gibt. Gleichzeitig ist es eine Geschichte über die Reise des Gedichtbandes ins kollektive Gedächtnis. Großen Anteil daran hat Selmas alter Lehrer, dem das Werk nach dem Krieg in Israel in die Hände fällt und der dann ein paar Exemplare davon in Eigenregie herausgibt.
Dass all diese Ereignisse nun auf der Theaterbühne ihren Widerhall finden, ist neben der Arbeit vieler kreativer Menschen auch ein Verdienst zweier Förderer: Für die Entwicklung des Projektes machte die Kulturstiftung des Bundes Mittel frei. Geld für die anstehenden Aufführungen kommt zudem vom Verein „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
Kartenreservierung für „Ich will leben“ (2./3. Juli, 20 Uhr, kTS Geesthacht) unter Tel. 04542-87000 oder per Mail unter info@stiftung-herzogtum.de.
Foto: Steffen Rasche
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