Im Frühjahr hat die pensionierte Lehrerin Barbara Sanders-Mowka im Möllner Stadthauptmannshof eine Gruppe von Lesepaten unterrichtet. Ihr Thema war die Vermittlung von Theorie und Praxis des Lesenlernens. Am 27. Oktober startet sie nun eine weitere, von der Stiftung Herzogtum Lauenburg und vom Deutschen Kinderschutzbund Kreisverband Herzogtum Lauenburg organisierte Fortbildung. Die Schwarzenbekerin ist nicht nur eine kompetente Pädagogin, sondern auch Fachfrau in Sachen Weiterbildung. Seit 1990 arbeitet sie schon für das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH). Kulturportal-Herzogtum.de sprach mit ihr über Analphabetismus, Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten und die Arbeit der Lesepaten.
Kulturportal-Herzogtum.de: Frau Sanders-Mowka, lesen Sie gerne?
Barbara Sanders-Mowka: Lesen ist meine Lieblingsbeschäftigung. Ich lese immer und überall. Das war schon als Kind so. Damals waren es Bücher von Enid Blyton und Astrid Lindgren, später dann Theaterstücke und Romane zum Beispiel von Böll, Grass und Lenz.
KP: Das Lesen ist also kein Mittel zum Zweck für Sie?
Sanders-Mowka: Jein. Ich lese auch gerne Fachliches zur Schule und zum Unterricht. Da ist das Buch das Mittel zum Zweck. Dadurch verändert sich immer wieder meine Einstellung zum Unterricht. Zur Entspannung lese ich andere Sachen. Mein Buchhändler empfiehlt mir ab und zu Bücher aus dem Mittelalter. Da merke ich, dass das nicht meine Welt ist. Das lege ich auch mal wieder weg.
KP: Lesen zu können, dürfte für Sie wie für die Mehrheit der Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein. Wie schlimm ist es im 21. Jahrhundert, wenn jemand diese Kulturtechnik nicht beherrscht?
Sanders-Mowka: Sehr schlimm. Die neue Technologie ist ja nicht schriftlos. Egal, ob ich Whatsapp nutze, eine SMS schreibe oder vor dem Fahrkartenautomaten stehe – ich muss immer lesen. Wenn ich dann merke, ich kann das nicht, macht das etwas mit meiner Persönlichkeit. Weil ich das nicht kann, bin ich von Informationen ausgeschlossen. Ich bin auch ausgeschlossen von beruflicher Weiterbildung. Hinter lebenslangem Lernen steht auch lebenslanges Lesen.
KP: Nach einer Studie der Universität Hamburg gab es in Deutschland 2011 rund 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Das sind Menschen, die Schwierigkeiten haben, längere Texte zu verstehen. Rund 2 Millionen konnten laut dieser Erhebung überhaupt nicht lesen und schreiben. Ist so eine Zahl für das Bildungssystem eines entwickelten Industrielandes nicht ein Armutszeugnis?
Sanders-Mowka: Das ist eine unglaublichhohe Zahl. Ein Großteil dieser Menschen ist durch das System Schule gefallen. Das sind ja nicht nur Flüchtlinge. Dazu gehören auch viele, die Erstleseunterricht gehabt haben – die also die Möglichkeit hatten – und das unbemerkt? Da frage ich mich: Wie kann das passieren? Wie kann es acht Jahre lang nicht auffallen, dass jemand nicht lesen kann?
KP: Wo liegen die Ursachen für den Analphabetismus?
Sanders-Mowka: Da geht es auch um die Frage: Warum gibt es schwache Leserinnen und Leser? Warum hat ein Lesepate einen 15-Jährigen, der schlecht liest? Wenn ich merke, dass ich etwas nicht gut kann, gehe ich dem aus dem Weg und es wird zum Teufelskreis.
KP: Das heißt: Man müsste diesen Prozess, der in der Ausweglosigkeit mündet, so früh wie möglich unterbinden…
Sanders-Mowka: Da gibt es leider keine Patentrezepte. Die Skandinavier stecken ganz viel Geld in die Kindergärten – die Unter-Dreijährigen haben die bestausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen.
KP: Und funktioniert das?
Sanders-Mowka: Bei der ersten Pisa-Studie haben die Skandinavier gut abgeschnitten. Wenn Kinder Freude an Geschichten bekommen und früh ein phonologisches Bewusstsein entwickeln, wenn sie Freude an Texten und Schrift und an Büchern haben, wäre das schon mal ein Grundstein. Das wäre eine Sprachförderung, die zum Verständnis von Texten führt. Dafür brauche ich Menschen. Beim Vorlesen schaltet jemand auch mal ab. Zwischenfragen müssen möglich sein. Es geht nicht, dass man das in großen Gruppen macht.
KP: Was ist mit den Familien? Müsste nicht auch da schon so früh wie möglich eine Leseförderung einsetzen?
Sanders-Mowka: Es fördert die Einstellung zum Lesen, wenn Kinder Erwachsene erleben, die lesen. Das findet nicht mehr in allen Familien statt. So kommen Kinder in die Schule, denen diese Erfahrung fehlt.
KP: Was kann eine Lespatin beziehungsweise ein Lesepate in solchen Fällen tun?
Sanders-Mowka: Lesepaten können unterstützen. Sie können lesen. Das Lesen ist aber nur das eine. Lesepaten werden zunehmend zu Vertrauten. Eine ganze Stunde einen Erwachsenen für sich zu haben, ist für viele Kinder und Jugendlicheein Luxus. Natürlich wird da auch gelesen. Aber:Wenn jede Schule zehn Lesepaten hätte, würde das nicht zur Trendwende führen, jedoch hätten einige Kinder und Jugendliche weitere Übungsmöglichkeiten.
KP: Wer wird Lesepate? Was für Menschen engagieren sich da?
Sanders-Mowka: Die, die ich zuletztkennen gelernt habe, waren vorwiegend Menschen, die nicht mehr im Beruf standen und gerne lesen. Ich habe den Eindruck, dass sie sich gern mit Jugendlichen beschäftigen und nach einer ernstzunehmenden Aufgabe suchen.
KP: Es handelt sich also eher um Laien. Was müssen sie können beziehungsweise was machen sie mit dem jungen Menschen, den sie unterstützen?
Sanders-Mowka: Die Paten erhalten von den Lehrern Texte, die auch in der Schule gelesen werden. Diese Texte werden von ihnen mit den Schülerinnen und Schülern vor- und nachbereitet. Die Paten sind aber auch Gesprächspartner und Vertraute. Die Schüler berichten von sich und merken: Da hört ein Erwachsener mal zu.
KP: Was sind das für junge Menschen?
Sanders-Mowka: Diese jungen Menschen haben nicht immer jemanden, der sich für das interessiert, was sie zu erzählen haben. Manchmal sind die Eltern selbst stark belastet. Zum Beispiel beruflich. Wenn jemand eigens für ein Kind oder einen Jugendlichen kommt, finden sie das toll. Sie treffen nicht nur auf einen Erwachsenen, der mit ihnen lesen übt, sondern auf jemanden, der Interesse an ihrer Person hat. Deshalb kommen die Schüler gerne zu ihrem Lesepaten. Das wurde mir von allen bestätigt. Die Schüler empfinden das nicht als Stigma, sondern als besondere Zuwendung.
KP: Wie bereiten Sie die Lesepaten auf Ihre Arbeit vor?
Sanders-Mowka: Die Lesepaten sollen Freude am Lesen vermitteln. Das ist das Hauptziel ihres Einsatzes– und das ist gar nicht so einfach. Ich muss offen sein. Ich muss die Interessen und Vorlieben meines Patenkindes herausfinden und entsprechende Texte heraussuchen. Dafür muss ich eventuell meine Ansichten zurückstellen. Die Lesepaten haben zudem gelernt, wie überhaupt der Lese-Lernprozess funktioniert – vom Erstleser bis hin zum geübten Leser. Sie haben etwas über Motivation und den Aufbau einer Lesestunde erfahren. Motivation ist nicht eine Eigenschaft an sich. Sie braucht Voraussetzungen und die Lesepaten können für diese Voraussetzungen sorgen.
KP: Was sind das für Voraussetzungen?
Sanders-Mowka: Die Lesepaten wissen zum Beispiel etwas über das Layout von Texten. Was ermutigt? Und sie können die Qualität von Texten einschätzen. Was ist einfach zu lesen? Was ist so komplex, dass ich mein Patenkind überfordere? Sie haben gesehen, wie man Sätze zerlegen kann. Sie haben gelernt, Texte mit den Augen eines ungeübten Lesers zu sehen. Lesepaten können nicht alles wissen, aber sie können sensibilisiert werden, auf gewisse Dinge zu achten.
KP: Frau Sanders-Mowka, ich danke Ihnen für das Gespräch.