Während die Ausbreitung von Covid-19 kurz vor Weihnachten die Debatte um schärfere Maßnahmen befeuert, hat Dr. Anke Mührenberg schon die Zukunft im Visier. Die amtierende Kreisarchivarin – die promovierte Volkskundlerin übernimmt im neuen Jahr die Leitung des Kreismuseums und des A. Paul-Weber-Hauses – sammelt aussagekräftige Dokumente, die nachfolgenden Generationen ermöglichen sollen, sich ein Bild von dieser Zeit zu machen. Ein aufwändiges und anspruchsvolles Unterfangen, wie sich im Interview mit Kulturportal-Herzogtum.de zeigt.
Kulturportal-Herzogtum.de: Frau Dr. Mührenberg, noch während der ersten Covid-19-Welle haben Sie die Menschen aufgefordert, Ihnen Dokumente aus dieser Zeit zur Verfügung zu stellen. Warum?
Dr. Anke Mührenberg: Weil ich finde, dass es etwas ganz Besonderes ist, was da auf uns zugerollt ist. Insofern ist es wichtig, dass wir auch die Zeitdokumente sammeln. Es ist ja so: Wenn ich in zehn Jahren nach Corona frage, dann hat keiner mehr irgendwas. Deshalb ist es für uns Archivare wichtig, dass wir gleich sagen – Leute gebt uns etwas ab, wenn ihr etwas habt! Wir dachten ja auch nach der ersten Welle im Frühjahr, so jetzt ist es vorbei.
KP: Das scheint mir ein neuzeitliches Phänomen zu sein. Zumindest wenn ich an frühere Epidemien denke. Da haben die Behörden Verordnungen erlassen und die Toten gezählt. Das kollektive Gedächtnis spielte eine untergeordnete Rolle…
Mührenberg: Das würde ich so nicht sagen. Es ist damals einfach nur viel weniger angefallen, als wir heute haben. Wir produzieren heute viel, viel mehr – ob nun auf Papier oder digital. Die Verordnungen, die ausgegeben wurden, sind auch damals schon abgelegt worden. Wenn man gesagt hat: So man sperrt jetzt die Grenzen, weil da die Pest ausgebrochen ist, aus dem und dem Ort dürfen die Leute nicht mehr ins Lauenburgische kommen. Diese Verordnungen haben wir hier auch. Natürlich ist da nicht mit dem Hinblick gesammelt worden, wie ich das jetzt mache. Ich gucke in die Zukunft und ich sage: In zehn Jahren werdet ihr euch ärgern, wenn ihr das nicht abgebt. Dann guckt ihr euch das Foto an und fragt euch: Warum trage ich da eine Maske?
KP: Die Maske – das verräterische „Accessoire“…
Mührenberg: Wir werden jedes Foto aus dem Jahr 2020, voraussichtlich auch noch aus dem Jahr 2021 sehr gut identifizieren können. Weil die Masse die Maske trägt. Gerade die Kinder, die jetzt in der Kita sind und noch gar nicht richtig verstehen, werden als Teenager oder junge Erwachsene fragen: Wie ist das damals gelaufen? Die werden gucken, gibt es da noch Bilder? Was hat da in der Zeitung gestanden?
KP: Ist Ihr Vorgehen heute Usus in den Archiven? Oder ist es etwas Besonderes?
Mührenberg: Das gab es schon einmal und zwar in den Zeiten der Industrialisierung. Im 19. Jahrhundert sind zum Beispiel die Heimatmuseen entstanden. Die Leute, die sich damals für die Geschichte interessierten, sagten: Die Welt ändert sich so schnell, wir müssen das bewahren, was wir hier von alt hergebracht kennen, sonst geht es verloren. Wir in den Archiven machen das eigentlich schon seit einigen Jahrzehnten, dass wir auch zeitdokumentarisch sammeln. Das wird uns in unserer Ausbildung mitgegeben. Auch die Tageszeitung sammeln wir und zum Beispiel Plakate oder Veranstaltungsflyer. Das machen wir schon sehr lange. Es hat bislang nur niemand so richtig wahrgenommen. Die Bevölkerung aufgerufen haben wir im Kreisarchiv in dieser Hinsicht das erste Mal bei Corona. Die meisten sagen sonst: Mein Plakat kommt in den Müll. Das interessiert niemanden mehr. Wo ich sage – doch, doch uns Archive interessiert das schon sehr.
KP: Das ist für mich der Punkt: Das ist so ein besonderes Ereignis und die Menschen sind darin gefangen. Dann fällt eigentlich erst einmal alles hinten runter. Als Mensch ist man da in seinem Tunnel. Ich habe eben gefragt, ob dieses Sammeln parallel zum Ereignis heute Usus ist. Was sagt das eigentlich über uns als Gesellschaft aus?
Mührenberg: Na ja – was sagt das über unsere Gesellschaft? Das Sammeln ist für das Archiv ja eine gesetzlich verpflichtende Aufgabe. Entstanden 1945 und 1989 durch die zwei Diktaturen, in denen man Akten vernichtet hat. Daraus sind unsere Archivgesetze entstanden. Das darf man auch nicht aus dem Blick verlieren. Und wenn man die Menschen dann mitnimmt, ist das Ok. Es ist ja nicht so, dass die Gesellschaft zu mir kommt oder die Bevölkerung sagt: Ich gebe das hier ab, ohne dass ich etwas sage, sondern sie müssen schon von mir den Zuspruch bekommen oder die Aufforderung und das dann auch bei mir abgeben. Ich denke auch, dass man verstanden hat, dass es aufbewahrenswert ist. Die Menschen gehen ja gerne in Museen und gucken sich das noch mal an. Sie nutzen die Archive. Wir haben unheimlich viele Nutzer hier, die keinen wissenschaftlichen Hintergrund haben. Diese Menschen kommen einfach und gucken und suchen. Irgendwas, was vor 50 oder 60 Jahren passiert ist.
KP: Das ist die Erklärung aus der Perspektive der Verwaltung. Wenn man weiß, dass Menschen andernorts womöglich auf mündliche Überlieferung angewiesen sind, ist das schon etwas Besonderes, dass man das so angehen kann. Was sagt das über uns aus?
Mührenberg: Dass wir im Wohlstand leben. Dasswir in einem gewissen Überfluss leben. Das finde ich bei der Sache noch gar nicht so prägnant. Das fällt mir eher auf, wenn ich an die Fotos denke – an die Digitalfotografie. Jeder kann mit seinem Handy, mit seinem Tablet, mit seiner Digitalkamera – die meisten benutzen ja ihr Handy – fotografieren. Da macht einer 1.000 Fotos. Vor 20 Jahren hatten wir noch den 36er Film. Das ist für mich eine interessante Sache, weil man geguckt hat: Was nehme ich auf? Heute wird wild umhergeknipst und keiner weiß, was das eigentlich abbildet. Wir leben natürlich in einer ganz anderen Gesellschaft als eine Gesellschaft, die sich nur mündlich austauscht oder nicht viel besitzt.
KP: Wie haben die Menschen auf Ihren Aufruf reagiert?
Mührenberg: Zuerst ein bisschen verhalten. Ich glaube auch, weil die Menschen wirklich noch so sehr drinsteckten. Das war ja noch zur Zeit des ersten Lockdowns, wo es wirklich total still war und alle im Homeoffice waren, wo die Geschäfte geschlossen waren, wo sich kaum einer raustraute. Ich beobachtete das, wenn ich hier saß. Ich bekam dann Fotos digital zugeschickt mit den Geschichten dazu. Im Sommer hatte ich hier das Fenster auf. Da lag dann irgendwann ein Brief. Da ging es um eine Familie, die ihre Mutter geholt hat, um sie bei sich zu haben und sie zu schützen. Andere haben von ihrem Corona-Test berichtet. Ein Lehrer hat, bevor die Schule wieder losging, nach den Sommerferien wirklich alles fotografiert – die Einbahnstraßenregelung oder dass die Kinder sich desinfizieren sollen. Wenn die Schüler irgendwann erwachsen sind, können sie sich nochmal zurückerinnern. Das eigene Gedächtnis spielt uns ja oft einen Streich.
KP: In der Tat. Waren denn auch viel Papierdokumente dabei?
Mührenberg: Tatsächlich ist es mehr Papier.
KP: Müssen Sie das alles scannen?
Mührenberg: Die Fotos mit Sicherheit. Wir haben die Vorgabe, dass Karten, Pläne und Fotos irgendwann digital vorliegen. Bei den Akten werden wir gucken, was wir digitalisieren. Die Kreistagsprotokolle ab den 70er Jahren sind ja zum Beispiel schon digital im Netz zu einzusehen. Aber wir werden niemals die Akten aus dem 16. Jahrhundert bis heute digitalisieren. Das ist finanziell auch nicht machbar.
KP: Besteht nicht grundsätzlich die Gefahr des Overkills – dass man schlicht zu viele Zeugnisse hat?
Mührenberg: Wir übernehmen ja nicht alles, was wir angeboten kriegen. Wir sind zwar angehalten Sammlungen wie zu ‚Corona‘ aufzubauen. Da redet man aber vorab mit den Leuten. Wenn man einen Nachlass angeboten bekommt, fragt man sich: Ist das wichtig für den Kreis, das aufzuheben? Wenn man ‚nein‘ sagt, kommt der gar nicht hierher. Wenn ich die Akten aus der Verwaltung herbekomme, dann gibt es die ganz normale Anbietungspflicht, die die Mitarbeiter der Kreisverwaltung mir gegenüber haben. Davon übernehme ich aber höchstens 10 Prozent. Da miste ich schon aus. Das ist das sogenannte Bewerten. Es gibt gewisse Sachen, die muss ich aufnehmen. Das sind die Protokolle von allen Sitzungen und Rechtssachen, das ist ganz klar. Es gibt aber Bestände, wo ich nur jede zehnte Akte aufhebe. Das wird digital genauso sein. Da muss man gewisse Abläufe generieren. Zum Beispiel was wirklich zu mir ins Archiv kommt und welche Dokumente schon auf dem Weg gelöscht werden. Da sind wir gerade dabei, zu klären, wie das Ganze dann ablaufen soll.
KP: Besteht nicht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht?
Mührenberg: Nein, da gibt es ja ganz klare Bewertungskriterien.
KP: Ich meine nur, dass man es heute womöglich wegen der vielen Quellen schwerer hat, wenn man sich als Historiker oder Archivar ein Bild machen möchte…
Mührenberg: Mit Sicherheit. Die Digitalisierung macht es schwerer. Heute hat man manchmal irgendwo tausende Fotos auf einem Speichermedium. Da kommen wir gar nicht mehr hinterher. Das ist für uns schwieriger als früher, wenn wir das Fotoalbum von Opa Ernst bekommen haben. Da wussten wir, das ist in Lanken aufgenommen worden und das können wir so archivieren. Wenn man einen Chip mit 1.500 Fotos bekommt, ist da weitaus mehr Arbeit. Da muss man dann gucken: Macht man das wirklich? Da geht auch viel verloren. Das ist generell mit der Digitalisierung so. Wenn ich mir überlege, ich habe immer noch die Briefe meiner lieben Freundin Conny. Im Leistungskurs haben wir uns unter der Bank immer geschrieben. Die Briefe haben wir aufbewahrt und ich habe ihr ihre zum 40. Geburtstag eingescannt. Sie hat mir ihre gegeben. Die haben wir wirklich komplett. Wenn wir heute daran denken, wie die Jugendlichen über Whatsapp kommunizieren – das ist weg. Das wird nicht mehr aufbewahrt. Die SMSen werden irgendwann gelöscht. Das ist das Problem, dass wir da eine gewisse Jugendkultur nicht mehr abbilden können.
KP: Das bedeutet: Sie schauen, was habe ich für Quellen? Was kann ich da rauslesen? Sind das gute Quellen? Sind das zu viele? Meine These war: Je mehr Quellen es werden, desto schwieriger kann die Interpretation sein. Jetzt haben Sie ein Beispiel gegeben, das man womöglich zu wenig hat…
Mührenberg: Das ist beidseitig eine Gefahr. Man kann tatsächlich viel zu viel Fotos haben. Andererseits ist so etwas heute schnell weg, weil es digital ist. Papier ist immer noch geduldiger.
KP: Ich möchte noch einmal, auf die grassierende Covid-19-Pandemie zu sprechen kommen. Haben Sie – verglichen mit anderen Regionen – irgendwelche Besonderheiten im Kreis ausmachen können?
Mührenberg: Die Besonderheit sehe ich, wenn ich an die Grenzlage zu Mecklenburg denke. 30 Jahre nach der Grenzöffnung hatten wir plötzlich wieder eine Grenze. Das ist für diejenigen, die gependelt sind und für den kleinen Grenzverkehr – wenn ich an Klein-Zecher, Seedorf und Zarrentin denke – natürlich schwierig. Ich weiß nicht, wie es in anderen Grenzregionen war. Aber da hat sich absurderweise die Geschichte wiederholt.
KP: Ich bin während des ersten Lockdowns illegal über die Grenze in Klein-Zecher und habe erst hinterher von jemanden gehört, dass das verboten war. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Da hat mich niemand angehalten.
Mührenberg: Ostern stand die Polizei vor Zarrentin und hat niemanden mehr durchgelassen. Ich bin ja auch Grenzgänger. Ich habe mir einen Dienstausweis geholt, damit ich hin- und herfahren durfte. Das war schon sehr speziell mit Mecklenburg.
KP: Grenzwertig im wahrsten Sinne des Wortes.
Mührenberg: Man dachte ja, dass so etwas nie wieder passiert. Wenn jetzt auch unter anderen Vorzeichen…
KP: Frau Mührenberg, ich danke für das Gespräch.