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„Mir fehlen die Krippenvorträge in den Kirchengemeinden“

Wie wohl die meisten Menschen hat sich auch Lothar Obst das Jahr 2020 ganz anders vorgestellt. Der 64-Jährige, der für die Lauenburgische Akademie regelmäßig Vorträge zur deutschen Geschichte hält, ist wegen der Covid-19-Pandemie in den persönlichen Lockdown gegangen. Die von ihm geplanten Vorträge – etwa über den Widerstand im Dritten Reich – hat er als Podcast präsentiert. Eine Berlin-Exkursion mit Besuch der Originalschauplätze des 20. Juli 1944 wurde abgesagt. Kurz vor Weihnachten meldet er sich nun mit einem Essay über die Entstehung des Adventskranzes zurück. Kulturportal-Herzogtum.de sprach mit ihm über Adventsrituale, Weihnachten im Zeichen von Corona und über Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken. Obst, der ein leidenschaftlicher Krippensammler ist, wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. 

Kulturportal-Herzogtum.de: Herr Obst, am kommenden Sonntag ist der 1. Advent. Was geschieht da bei Ihnen im Haus?

Lothar Obst: Da wird unser Adventskranz wie immer auf die gleiche Weise geschmückt und auf den Tisch gestellt. Meine Frau – wir kennen uns jetzt seit 40 Jahren – hat den Schmuck von ihrer Mutter übernommen. Dazu gehören noch diese ganz alten goldfarbigen Kerzenhalter aus Blech, die in den Kranz gesteckt werden. Die Kerzen sind immer rot. Dann kommen da noch vier rote Schleifen rum. Früher wurde dieser Kranz auf einen roten Ständer gehängt, der einen sternförmigen Fuß hatte. Da musste man genau austarieren, damit die Kerzen nicht unterschiedlich abbrannten. Aber das machen wir nicht mehr. – Seit ein paar Jahren besitzen wir außerdem eine sehr schöne mehrstufige Pyramide, die wir aus dem Erzgebirge bezogen haben.

KP: Bauen Sie die Sachen gemeinsam mit Ihrer Frau auf?

Obst: Meine Aufgabe ist es, die Sachen aus dem Keller zu holen. Meine Frau erledigt dann die Dinge im Wohnzimmer. Beim Raufholen der Pyramide hilft mir immer ein Bekannter. Das Ding ist sehr schwer und steht auf einem Podest, das insgesamt 1,80 Zentimeter hoch ist. Dann haben wir noch einen schönen Schwibbogen, der auf den Kamin kommt.

KP: Was ist ein Schwibbogen? Den Begriff habe ich noch nie gehört.

Obst: Das ist ein Leuchter mit kleinen Holzarbeiten wie der Dresdner Frauenkirche und den Häusern des Vorplatzes. Ein richtig schöner großer Bogen mit sechs oder acht Lämpchen. Wir beleuchten unsere Fenster alle mit solchen Bögen.

KP: Gibt es bei Ihnen – abgesehen vom Schmücken des Hauses – weitere Traditionen oder gar Rituale?

Obst: Ich habe eine große Futterkrippe und ein Jesuskind. Diese Krippe wird zum 1. Advent ein wenig geschmückt und leer in den Hausflur gestellt. Als unser Sohn klein war, hatten wir ein Wunschzettel-Ritual. Er schrieb auf einen Zettel, was er sich wünscht. Dieser Zettel kam ins Wohnzimmer auf die Fensterbank und wurde immer nachts von Engeln abgeholt. Engel kommen ja überall rein. In der Tür klemmte dann immer Engelshaar. Für den Kleinen war das der Beweis, dass ein Engel den Wunschzettel abgeholt hat. Bei mir fing der 1. Advent 15 Jahre lang damit an, dass ich einen Gottesdienst von Pastor Benedikt Kleinhempel* besuchte. Wir beide hatten uns bei der Arbeit kennen gelernt. Ich stellte in seinem Gottesdienst immer eine Krippe vor. Er hielt dann meistens über eine Figur dieser Krippe seine Predigt.

KP: Sie sagten gerade, dass Ihr Bekannter Ihnen beim Aufbau der Pyramide hilft. Gilt das auch angesichts der Pandemie und der staatlich verordneten Einschränkungen?

Obst: Mein Bekannter kommt trotzdem. Wir halten entsprechend Abstand. Das kriegen wir schon hin. Es geht ja nur darum, diese schwere Pyramide nach oben zu tragen. Ansonsten werden wir den Advent genauso feiern wie in den Jahren zuvor.

KP: So viel vermissen Sie also gar nicht?

Obst: Was mir fehlt, sind die obligatorischen Krippenvorträge in den Kirchengemeinden oder eine kleine Ausstellung. Sonst bin ich eigentlich jedes Jahr mit fünf, sechs Krippen unterwegs.

KP: Alles in allem geht es Ihnen aber gut?

Obst: Wir sind wohlauf. Wir halten uns zurück, was Besuch von Veranstaltungen anbelangt. Wir kommen zu Hause gut klar. Wir haben genügend Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Meine Frau ist von Haus aus eine Leseratte. Ich selbst muss sagen, ich habe noch nie so viel gelesen wie in diesem Jahr. Ich habe die Zeit genutzt, meinen Fundus über Weihnachten zu sichten und zu sortieren. Ich habe dann angefangen, eine große Abhandlung über das historische Weihnachten zu schreiben. 50 bis 60 Seiten habe ich bereits zu Papier gebracht. Aber klar: Die Kontakte fehlen uns. Die Geburtstage im Bekanntenkreis sind alle ausgefallen. Unser Sohn hatte während des Lockdowns im Frühjahr 30. Geburtstag und wir konnten ihn nicht in Frankfurt besuchen.

KP: Ist die aktuelle Lage nicht auch eine Chance, sich auf das Wesentliche des Festes zu besinnen – auf Christi Geburt?

Obst: Bestimmt. Zu Weihnachten gehören aber auch Weihnachtsmärkte, Weihnachtsbeleuchtung, ein schön geschmückter beleuchteter Tannenbaum auf dem Marktplatz. Weihnachten ist ja nicht nur christlicher Glaube, sondern auch Brauchtum. Ich möchte da nicht das eine vom anderen ausschließen. Manche sagen ja, das wird kommerzialisiert. Ich bin da viel reservierter und sage immer: leben und leben lassen. Jeder hat seine Art, das Fest zu begehen und darüber sollten wir uns nicht erheben. Weihnachten ist natürlich immer ein stärkendes Moment, wenn man sich auch darüber im Klaren ist, dass es um die Geburt Jesu geht. Das ist der Kern. Dazu gehören dann auch diese fröhlichen Arten, das Ereignis zu feiern. Ich bin ja katholisch, und die Katholiken sind sinnliche Menschen. Denen ist nichts Menschliches fremd.

KP: Könnte es nicht sein, dass die Botschaft in den letzten Jahren angesichts der mit Lebkuchen überquellenden Supermärkte, der blinkenden Fenster und der bunten Lichterketten zu kurz gekommen ist?

Obst: Da stimme ich zu. Das Elternhaus und die Schule müssen ihre Aufgaben wahrnehmen und religiöse Bildung vermitteln. Wenn ich an meinen Religionsunterricht zurückdenke – da kam der Pfarrer der Kirchengemeinde in die Schule. Als Junge fand ich die Geschichten, die er aus der Bibel erzählte, irre spannend – der Auszug der Israeliten aus Ägypten, die Wanderung durch die Wüste, die Evangelien. Wenn ich das bei meinem Sohn eine Generation später sehe, da ging es mehr auf die humanitäre Schiene: Wir müssen gute Menschen sein. Wir müssen uns gut vertragen und tolerant sein gegenüber anderen. Das ist auch gut und gehört dazu. Aber der Bildungsteil kommt mir da zu kurz. Da geht über die Generationen ganz viel verloren. Der Anteil derer, die wissen, was Ostern und Pfingsten passiert ist, nimmt bei Umfragen ab.

KP: Religiöse Bildung führt nicht zwangsläufig zu größerem Glauben. Wir leben heute in einer säkularen Gesellschafft. Die Kirchen haben es da schwer. Was können Christen tun, um erfolgreicher gegen den Strom zu schwimmen?

Obst: Nach meinem Dafürhalten spricht die Kirche zu wenig von Gott. Das ist das Hauptmanko. Ich glaube nicht, dass die Katholische Kirche am Zölibat krankt oder daran, dass sie den Papst als Oberhaupt hat. In der evangelischen Kirche gibt es beides nicht, sie hat aber die gleichen Probleme. Die Kirchen müssen wieder zurück ins Kerngeschäft. Sie müssen einfach drüber sprechen und die Leute für das begeistern, was passiert ist.

KP: Apropos Katholiken und Protestanten. Gibt es eigentlich große Unterschiede zwischen den Konfessionen, wenn es um die Adventszeit und Weihnachten geht?

Obst: Nein, die sehe ich nicht. Einige Bräuche sind im protestantischen Bereich verwurzelt. Zum Beispiel der wunderbare Adventskranz von Wichern mit seinen vier weißen Kerzen für die Sonntage und den kleinen Kerzen für die Werktage. Interessant ist auch, dass sich Brauchtum verändert. Luther konnte mit dem Nikolaus nicht viel anfangen. Er hat ihn für eine „verkitschte Person“ gehalten. Was ja auch stimmt. Er ist von einem überzeugten Mann zu einem frömmelnden Heiligen abgeschliffen worden. Bei Luther ist das Christkind als Gabenbringer gekommen. Das Christkind ist eigentlich eine lutherische Tradition. Der Weihnachtsmann ist eher eine katholische Tradition, die erwachsen ist aus dem Nikolaus. Das hat sich in Deutschland völlig verändert. Heute finden wir das Christkind mehr in den katholischen Gegenden und den zum Weihnachtsmann mutierten Nikolaus mehr in protestantischen Bereichen. Aber das sind mehr so Gebräuche, inhaltlich gibt es da überhaupt keinen Unterschied.

KP: Ich möchte zum Schluss noch mal auf Weihnachten 2020 unter dem Vorzeichen der Pandemie zurückkommen. Glauben Sie, dass es die Menschen dazu bringen wird, stärker über Gott und den christlichen Glauben nachzudenken? Schließlich dürfte es in diesem Jahr kaum Veranstaltungen geben.

Obst: Zumindest ist die Chance da, dass man von diesen Veranstaltungen um Weihnachten herum, nicht abgelenkt wird, das Wesentliche zu betrachten. Ob das dazu führen wird, dass man sich des Wesentlichen bewusster ist und vielleicht sogar Neugierde daraus entsteht – ich glaube, so stark wird diese Corona-Einschränkung nicht wirken. Dazu gibt es einfach insgesamt zu viele gesellschaftliche Entwicklungen, die die Menschen immer weiter weg von Religion und Gott geführt haben.

KP: Herr Obst, ich danke Ihnen für das Gespräch.

* Benedikt Kleinhempel war Pastor in der evangelisch-lutherischen Gemeinde Schönningstedt-Ohe (Reinbek). Obst leitete 19 Jahre lang als kaufmännischer Direktor das katholische Krankenhaus Reinbek St. Adolf-Stift. Die beiden Männer begegneten einander im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeiten.