Was macht der Kantor einer evangelischen Gemeinde, wenn er ausgerechnet in der Weihnachtszeit zur Tatenlosigkeit verdammt ist? Wie gut kommt der Musiker mit der aus gesundheitspolitischen Gründen verordneten Stille klar? Diese und weitere Fragen hat Kulturportal-Herzogtum.de Thimo Neumann von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Mölln gestellt.
Kulturportal-Herzogtum.de: Herr Neumann, sind Sie ein Mensch, der gut mit Stille klarkommt?
Thimo Neumann: Das kann ich nicht so einfach mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Es gibt Phasen, wo ich Stille brauche. Und Phasen, wo genau das Gegenteil der Fall ist.
KP: Momentan sind Sie ja zur Stille verdammt…
Neumann: Für mich kann ich das akzeptieren. Mir tut es nur für die Sänger leid, dass man jetzt diese Stille hat. Weil es ja nicht nur um das Singen geht, sondern auch um den gesellschaftlichen Aspekt. Im übertragenden Sinne ist das auch eine soziale Stille. Das ist ein weitaus größeres Problem, als dass wir keine Konzerte gebe können. Was schade ist – aber ich bin Realist genug und weiß, dass das jetzt so sein muss.
KP: Stille und Philharmonie erscheinen in der Pandemie wie maximale Gegensätze. Welche Rolle spielt die Stille in musikalischen Werken?
Neumann: Die Stille ist Teil der Musik, Teil der Komposition. Es gibt Generalpausen. Das ist Stille – da geschieht nix. Der Spannungsverlauf steigert sich und die Idee der Musik geht in der Stille weiter. Das ist eine ganz spannende Sache. Der Komponist John Cage hat ein Stück geschrieben, das heißt ‚4:33‘ – das meint die Länge 4 Minuten 33. Das ist ein Stück für alle Besetzungen. Es wurde auch schon von großen Orchestern aufgeführt. Die Noten bestehen nur aus Pausen. Das heißt, die Musiker spielen keinen einzigen Ton. Drei Sätze hat das Stück, und diese Sätze sind permanente Stille. Nichts passiert. Der Komponist hat sich gefragt, was macht Stille mit einem? Gehört Stille zur Musik? Das ist total interessant, weil man trotzdem einen Spannungsverlauf merkt. Auch bei den Musikern. Der Dirigent steht vorne. Es gibt den Auftakt und dann geht es los. Die Musiker haben eine unglaubliche Grundspannungspräsenz, weil sie trotzdem Musik machen. Es ist ein Musikstück. Und das Spannende ist, wenn man als Zuhörer dort sitzt, hört man jedes kleinste Geräusch – jedes Husten.
KP: Gab es da gar keinen Aufschrei in der Musikwelt? Keine erbitterte Diskussion in den Feuilletons?
Neumann: Es gab auch negative Reaktionen. Natürlich. Die Frage, die dahinterstand, war: Ist das noch Musik, was der da macht? Oder verarscht er uns? Dahinter steckt ja auch die Frage: Was ist Musik? Wo beginnt sie? Wo hört sie auf? Ich glaube, genau das hat Cage auch gewollt.
KP: Das ist natürlich ein sehr krasses Beispiel. Unabhängig davon betonen Sie die Bedeutung der Stille. Würden Sie so weit gehen, zu sagen, dass der Umgang mit der Stille die Arbeit des Dirigenten oder Musikers auszeichnet?
Neumann: Auf jeden Fall. Es steht ja nicht alles in den Noten. Es kommt immer darauf an, was man da vor sich hat. In der Barockmusik beispielsweise finden sich nur wenige Anhaltspunkte, wie etwas zu interpretieren ist. Dafür braucht man den musikwissenschaftlichen Background.
KP: Gibt es im Barock überhaupt keine Tempovorgaben?
Neumann: Es gibt ungefähre Tempoangaben, die sind dann aber anders gemeint als beispielsweise in der Romantik. In der Romantik geht so eine Tempobezeichnung zumeist mit einer Charakterbezeichnung des Stückes einher. Das ist schon ein Unterschied. Man muss sich ein bisschen in den Epochen auskennen und sehen, dass Tempo nicht immer gleich Tempo ist. Was man sagen kann, ist: Je älter die Musik, desto weniger Angaben stecken in den Noten. Umso mehr muss man sich reinfuchsen, um zu verstehen, wie das eigentlich gemeint ist. Bei spätromantischer Musik – zum Beispiel bei Gustav Mahler – ist das anders. Er hat wirklich alles reingeschrieben, was man sich vorstellen kann. Wenn man es dann so macht, macht man es auch gut.
KP: Die Umstände dürften verglichen mit dem 19. Jahrhundert in der Barockzeit auch gänzlich andere gewesen sein – beispielsweise das Ausmaß der Schriftlichkeit, die Anlässe fürs öffentliche Musizieren…
Neumann: Selbst die Instrumente waren ganz anders gebaut. Das muss man alles bedenken. So etwas umzusetzen, ist immer auch eine Sache der Ressourcen und des eigenen Anspruchs. Ich bin da nicht perfekt und weiß auch nicht alles. Wenn man beispielsweise ein Orchester dirigiert, lernt man miteinander. Das ist spannend und sehr facettenreich. So ist es bei vielen Arbeiten aus der Barockzeit.
KP: Zumindest sind die Rollen klar verteilt. Hier das Ensemble und der Dirigent, da das Publikum…
Neumann: Exakt. Als Musiker – ob ich selbst spiele oder ob ich dirigiere – hat man die Aufgabe, die Emotion und die Idee eines Stückes zu übertragen, dass dann der berühmte Funke überspringt. Das ist das Ziel des Ganzen. Und insofern hofft man als Musiker, dass man das Publikum emotional mitnimmt.
KP: Die Zuhörer müssen sich also wie beim klassischen Theater voll einlassen. Wegen der Covid-19-Pandemie gibt es nun weder Live-Musik noch Publikum. Wie viele Striche wurden Ihnen da durch die Rechnung gemacht?
Neumann: Die Weihnachtszeit wäre Hochsaison gewesen. Normalerweise hätten wir mit allen Gruppen der Gemeinde große Konzerte gegeben. Diese Auftritte und auch einige Fremdkonzerte mussten wir absagen. Da muss man erstmal schlucken, weil es die freiberuflichen Musiker, die ich engagiere, gerade richtig schwer haben. Diese Musiker leben davon, dass sie Konzerte spielen und dafür Gage bekommen.
KP: Haben Sie die gesamte Zeit pausiert oder konnten sie unter den gesetzlichen Hygienebedingungen zumindest proben?
Neumann: Nach dem Komplettverbot im Frühjahr haben wir angefangen, draußen zu singen – vor der Kirche. Dass man sich sieht und wieder singt, war total wichtig für das Soziale. Bei zwei Meter Abstand ist es aber nicht so erquicklich. Im September durfte man dann auch in geschlossenen Räumen proben. Der Saal im Polleyn-Zentrum war groß genug dafür, dass da viele rein konnten. Das war dann OK, aber man hatte trotzdem kein Ziel. Ich fühlte mich außerdem ein bisschen unwohl, weil dieses Virus im Raum steht. Man weiß: Mit den Aerosolen ist die Ansteckungsgefahr einfach da.
KP: Neben den Proben haben sie bis Mitte Oktober alle 14 Tage halbstündige Orgelkonzerte gegeben.
Neumann: Das Konzept habe ich zusammen mit meiner Kollegin Andrea Battige ausgearbeitet. Wir wollten damit ein Zeichen setzen. Auch wenn der Besuch relativ mau war, war es eine gute Sache. Wir haben gezeigt, wir sind da. Wir bemühen uns. Wir gehen nicht unter. Wir sitzen in keiner Schockstarre mehr.
KP: Hatten Sie darüber hinaus auch einen Plan B für Weihnachten in der Schublade?
Neumann: Da war ich zum Glück vorsichtig und habe mich mit Kollegen im Kreis abgestimmt. Man hatte ja überhaupt keine Planungssicherheit. Konzerte, die wir hätten machen wollen, hätten immer auch die Chöre betroffen. Und mit den Chören kann man das aktuell einfach vergessen. Deswegen habe ich mir überlegt, eine CD zu erstellen – von der eigenen Gemeinde für die Gemeinde – mit allen Sängerinnen und Sängern. Die letzte Woche bestand nur aus Aufnahmesessions – Fünf-Minuten-Turns mit den einzelnen Sängern. Dies Stücke bearbeite ich gerade. Wenn man das nur zusammenlegen würde, würde das echt schlecht klingen. Den Sängern fehlt beim Singen ja der Chor. Da hat man kein Gefühl für Intonation und Timing.
KP: Das hört sich nicht nur aufwändig, sondern auch technisch anspruchsvoll an.
Neumann: Ich habe da eine Software, damit die CD nachher nicht nach Kraut und Rüben klingt. Sie soll dann an die Leute der Gemeinde in Mölln gehen, die allein sind. An die ältere Generation plus 80 beispielsweise, die im Altenheim lebt – auch als Zeichen von der Kirche und der Kirchengemeinde.
KP: Ich komme zum Schluss noch mal auf das Thema Stille zurück. So ganz still wird Weihnachten ja nun nicht, wenn Sie die CD produzieren. Aber ist nicht gerade die Nacht, in der Jesus geboren wurde, eine stille Nacht gewesen? Ist die Pandemie nicht eine gute Gelegenheit, zu diesem Ursprung zurückzukehren und die Stille wieder in den Mittelpunkt zu rücken?
Neumann: Ich weiß gar nicht, ob wir uns entfernt haben. Wie die ersten Weihnachtsfeste der Christenheit waren, können wir ja gar nicht beurteilen. Wahrscheinlich fanden sie eher in Verstecken und im Geheimen statt. Aber Weihnachten ist ja auch ein Fest der Freude und der Freiheit gewissermaßen. Für viele Menschen sind Konzerte im Advent im Übrigen ein Ruhepol. Auch die Weihnachtsgottesdienste sind so eine Tradition. Sie bringen ein bisschen runter. Genauso ist es mit den Konzerten. Ohne beides wäre mir das auch zu viel Stille.
KP: Herr Neumann, ich danke Ihnen für das Gespräch.