Unter dem Motto „Wanted: Junge Autor*inn*en“ beteiligten sich 2019 zahlreiche Kinder und Jugendliche am von der Stiftung Herzogtum Lauenburg ins Leben gerufenen Schreibwettbewerb. Bereits im April wurden die besten Beiträge ausgezeichnet. Insgesamt sieben Preisträger gab es in den Alterskategorien der Sechs- bis Elfjährigen, der Zwölf- bis 16-Jährigen und der 17- bis 23-Jährigen. Die Gewinnertexte können Sie jetzt auf Kulturportal-Herzogtum.de lesen. Auf Magdalena Franz‘ Siegergeschichte „Die alte Schreibmaschine“ und Maya Fausts Gedicht „Herbstzauber“ folgt nun mit Zoe Schreblowskis Beitrag „Helenas Reise nach Atenia“. Sie ist die dritte und letzte Preisträgerin der Sechs-bis Elfjährigen.
„Helenas Reise nach Atenia“
In der Nacht wurde Helena von
einem Geräusch geweckt. Es klopfte an der Tür ihres Krankenhauszimmers.
Verschlafen rieb sie sich die Augen. Die Tür ging auf und herein kam eine
große, bleiche Frau mit stechendem Blick. Helena wollte schreien, doch ihr Hals
war wie zugeschnürt. „Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, sagte die Frau.
„Ich wurde aus Atenaria geschickt, dem Land der Freiheit.“ Helena sah sie
zweifelnd an. Sie glaubte nicht an Zauberei und schon gar nicht an andere
Welten, wo es angeblich Fabelwesen gab. Die Besucherin schien Helenas Gedanken
gelesen zu haben, denn sie sagte: „Es ist normal, dass du nicht an Atenaria
glaubst, denn es liegt weit weg. Noch nie war ein Mensch dort, aber das wird
sich bald ändern.“
Sie machte eine kurze Pause,
bevor sie weitersprach: „Atenaria wird seit einiger Zeit von der bösen Königin
Ramona angegriffen. Wir können sie nur besiegen, wenn wir ihr die Uhr der Zeit
wegnehmen. Denn mit dieser Uhr kann sie die Zeit anhalten, wann immer sie will.
Dann kann sich keiner mehr bewegen, außer ihr Menschen, denn ihr seid
unabhängig von der Zeituhr, und Ramonas Wachen.“ Helena sah sie entgeistert an.
„Und was bist du, wenn du kein Mensch bist?“, fragte sie. „Eine Fee“, erklärte
die Frau. „Ich heiße übrigens Winigunda.“
Sie sah sich vorsichtig um,
bevor sie weiterredete: „Unsere Königin Sarah hat entschieden, dass du nach
Atenaria kommen sollst.“ Einen Moment war es still im Zimmer. „Wieso?“, brachte
Helena schließlich hervor. Winigunda setzte sich auf Helenas Bettkante, so als ob
sie sich schon ewig kannten. „Du musst wissen, dass deine Mutter eine Wächterin
von Königin Sarah war, bevor sie Atenaria verlassen hat.“ „Aber was hat das mit
mir zu tun?“, fragte Helena trotzig. Winigunda deutete auf ihre Kette und
sagte: „Nur mit diesem Anhänger kann man nach Atenaria gelangen.“ Erst jetzt
fiel Helena auf, dass an der Kette der Frau genau der gleiche auffällige
Anhänger hing wie an ihrer eigenen. Er hatte die Form eines Halbmondes und war
mit kleinen Steinen besetzt, die im Licht, das durch die Fenster fiel,
funkelten. Helena hatte ihn von ihrer Mutter geschenkt bekommen, bevor sie
gestorben war. Von da an hatte sie das Schmuckstück immer getragen. Helena
schossen Tränen in die Augen. Schnell wischte sie sie weg. Winigunda strich ihr
über den Kopf und sagte: „Sei nicht traurig, deiner Mutter geht es jetzt gut.“
Helena schluckte. Sie musste daran denken, dass ihre Mutter ihr früher oft
Geschichten aus einer fernen Welt erzählt hatte. Sie hatte sich immer gefragt,
woher ihre Mutter diese Geschichten alle kannte. Jetzt wusste sie, dass sie ihr
von Atenaria erzählt hatte.
Winigunda fuhr fort: „Da in
Atenaria keine Menschen geboren werden, hat niemand von euch so eine Kette –
außer dir. Denn du hast die Kette ja von deiner toten Mutter geerbt. Sie war
die einzige Fee, die in die Menschenwelt gegangen ist, um dort zu leben.“
Helena nickte. „Die Sache hat nur einen Haken.“ Winigunda klang jetzt unsicher.
„Du musst sterben, damit du nach Atenaria kommen kannst.“ Nun war es heraus.
Helena starrte sie an. Dann fing sie wieder an zu weinen. Winigunda versuchte,
Helena zu trösten. „Sieh mal“, sagte sie, „in Atenaria ist es doch schön.“ Aber
sie wusste selbst, dass das nicht überzeugend klang. Denn seit Ramona dort
herrschte, war Atenaria ein einziges Schlachtfeld. Nach einer Weile wischte
Helena sich mit dem Handrücken über die Augen. Im nächsten Moment fing sie
wieder an zu schluchzen. Sie musste daran denken, wie traurig ihr Papa sein
würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Er war so verzweifelt gewesen, als ihre
Mutter starb. Helena holte tief Luft. „Ich komme mit“, hörte sie sich sagen. Im
nächsten Augenblick bereute sie ihre Entscheidung schon. Aber jetzt war es zu
spät.
Auf einmal hatte sie Angst,
unheimliche Angst. Sie fühlte, wie sie aus ihrem Körper hinausschlüpfen konnte.
Es war ein komisches Gefühl, aber es ging. Sie verließ ihren Körper und
überquerte eine unsichtbare Grenze. Auf einmal stand sie auf einem Weg.
Winigunda war neben ihr. Die Sonne schien von einem blauen Himmel, die Luft war
klar und roch salzig. Helena ließ ihren Blick schweifen. In einiger Entfernung
erkannte sie einen See. Von dort her wehte eine kühle Brise. Weiter hinten
erhob sich ein Hügel. Ganz oben stand ein Schloss, dahinter erstreckte sich ein
Wald. Das Schloss war verziert mit Türmen und Fahnen, die im Wind wehten.
Helena hatte es die Sprache verschlagen. Noch nie zuvor hatte sie etwas so
Schönes gesehen.
Viel Zeit zum Staunen blieb ihr
allerdings nicht, denn Winigunda drängte zum Aufbruch. „Komm“, sagte sie, „wir
müssen schnell zum Schloss. Königin Sarah wartet schon auf dich.“ Bald
erreichten sie die Schlossmauer. Winigunda klopfte an ein großes, hölzernes
Tor. Es schwang von selbst auf und sie traten in eine große Halle ein. Von hier
gingen mehrere Türen ab. Winigunda lief zielstrebig auf eine Tür zu und öffnete
sie. Dahinter befand sich ein langer Korridor. Am Ende des Korridors klopfte
Winigunda an eine weitere Tür, bevor sie eintrat.
Sie kamen in einen geräumigen
Saal. In einem Kachelofen prasselte ein warmes Feuer. Vor dem Ofen saß eine
Frau in einem langen, roten Gewand. Sie lächelte Helena an und sagte: „Ich habe
mir schon gedacht, dass ihr bald kommen werdet.“ „Setzt euch“, sagte sie und
deutete auf zwei Stühle. Die Königin musterte Helena aufmerksam. „Du kommst ganz
nach deiner Mutter“, stellte sie fest. „Ein Jammer, dass sie weggegangen ist.“
Sie seufzte tief. Auf einmal kam eine mächtige Eule durch das offene Fenster
geflogen und landete auf dem Tisch. „Das ist Nachtauge“, sagte Königin Sarah.
„Sie soll dir gehören. Du wirst sehen, Eulen sind in vielen Dingen sehr
nützlich.“ Sie schaute Nachtauge an, die ungeduldig von einem Bein aufs andere
trippelte. Der Vogel hüpfte zu Sarah hinüber und ließ einen Brief in ihren
Schoß fallen. Dann hopste die Eule zu Helena und sah sie mit ihren großen Augen
an. Helena streckte ihre Hand aus und berührte vorsichtig ihr Gefieder.
Auf einmal stupste Helena
jemand von der Seite an. Es war Winigunda. „Komm“, sagte sie, „ich zeige dir
jetzt, wo du schläfst.“ Sie verabschiedeten sich von Sarah, und Winigunda
führte sie in ein kleines Gemach. Helena hatte sich gerade aufs Bett gesetzt,
als die Tür aufging und ein Mann hereingestürmt kam. „Ramona plant einen
Angriff!“, japste er. „Wir treffen uns in der großen Halle. Alle müssen informiert
werden.“ Und schon rannte er wieder hinaus. Helena hörte noch, wie er den Flur
entlanglief und eine weitere Tür öffnete.
In der Halle war es laut.
Helena entdeckte Sarah und kämpfte sich zu ihr durch. „Da bist du ja!“ Sarah
klang erleichtert. „Hör gut zu, ich erkläre dir, was du machen musst. Ramona
kommt von Westen. Wenn sie die Zeituhr umgedreht hat, werden wir alle
erstarren. Du musst Ramona die Uhr wegnehmen und sie wieder umdrehen. Dann
bringst du die Zeituhr ins Schloss.“ „Aber wie soll ich ihr die Zeituhr
wegnehmen?“, fragte Helena. „Du wirst schon einen Weg finden“, erwiderte Sarah.
Auf einmal erstarrten alle um
sie herum. Helena erschrak so sehr, dass sie nach hinten stolperte und mit
Winigunda zusammenstieß, die einfach umfiel. Helena rannte zum Tor und öffnete
es. Sie stockte. Vor ihr standen zwei riesige Gestalten, die sie fies
angrinsten. „Soso, damit will Sarah Atenaria also retten!“, sagte die eine
Wache und lachte. „Mit einem kleinen, hilflosen Mädchen!“ Die Wächter kamen
drohend auf Helena zu. „Komm mit!“, befahl der eine. „Ramona wird sich freuen.“
Helena rührte sich nicht. „Du hast es nicht anders gewollt“, sagte der andere.
Ein Netz fiel auf Helena herab. Im letzten Moment konnte sie sich wegducken.
Doch da schoss schon das zweite Netz auf sie zu. Diesmal war Helena nicht
schell genug. Das Netz schloss sich fest um sie.
Die beiden lachten, hoben
Helena hoch und trugen sie zu einem großen Stein, der vor dem Schloss lag.
Davor stand eine Frau. Das war bestimmt Ramona, vermutete Helena. Die Wachen
ließen Helena vor ihr ins Gras fallen. „Wer ist das?“, fragte Ramona. „Majestät,
das Mädchen kam aus dem Schloss und …“ „Aber wo ist Sarah?“, unterbrach sie den
Wächter. „Majestät, sie ist noch im Schloss.“ „Dann holt sie!“, knirschte
Ramona. Als die Wächter im Schloss verschwunden waren, wandte sie sich an
Helena: „Was machst du hier?“ Helena antwortete nicht. Sie starrte gebannt auf
die Uhr, die Ramona in der Hand hielt. „Na schön“, sagte Ramona. „Das hier ist
die Uhr der Zeit. Wenn sie kaputtgeht, bleibt die Zeit für immer stehen. Sarah
ist eine tapfere Frau. Aber das hilft ihr jetzt auch nicht weiter.“ Sie grinste
böse und kam mit ihrem Gesicht ganz dicht an Helenas Gesicht heran. „Lass dir
eines gesagt sein“, flüsterte Ramona, „es gibt kein Gut oder Böse, es gibt nur
die Macht.“
Sie holte weit aus und
schleuderte die Uhr der Zeit in hohem Bogen weg. Helena blieb fast das Herz
stehen. Sie sah, wie die Uhr immer tiefer fiel. Auf einmal ertönte ein lauter
Schrei. Nachtauge kam im Sturzflug angebraust. Gerade noch rechtzeitig
umfassten ihre Krallen die Uhr. Helena konnte ihre Augen nicht von Nachtauge
wenden, die nun zu ihr geflogen kam. Die Eule packte ihr Netz und hob Helena
hoch. Immer höher und höher flogen sie, bis sie schließlich auf einer Außenplattform
des Schlosses landeten. Nachtauge gab ihr die Uhr und Helena drehte sie schnell
um.
Ungläubig starrte Helena auf
den Tisch. Vor ihr standen Schüsseln mit Suppe, Teller mit Fleisch und Kuchen,
und da lag auch die Uhr der Zeit. Helena konnte immer noch nicht glauben, dass
sie Ramona wirklich besiegt hatten. Sie saß neben Sarah und Winigunda. Beide
sahen äußerst zufrieden aus. „Sarah, kann ich dich mal was fragen?“, begann
Helena. „Was denn?“, fragte die Königin. „Warum konnte sich Nachtauge eigentlich
auch bewegen?“, wollte Helena wissen. „Das kann ich …“
Plötzlich schreckte Helena aus
ihrem Traum hoch. Mit zitternder Hand tastete sie nach dem Knopf ihrer
Nachttischlampe. Das Licht ging an. Alles war wie vorher. Erleichtert atmete
sie auf und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Morgen würde ihr Vater sie
aus dem Krankenhaus abholen. Da fiel ihr Blick auf den Nachttisch. Dort lag
eine Kette mit einem Anhänger. Er hatte die Form eines Halbmonds und war mit
Steinen besetzt, die im Licht funkelten.