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Kunst- und stilvoll in die dunkle Jahreszeit

Kunst- und stilvoll in die dunkle Jahreszeit geht es am Sonnabend, 20. Oktober, und Sonntag, 21. Oktober, im Viehhaus des ehemaligen Gutshofs Segrahn (Gudow) zu. Ilsabe von Bülow lädt zur 7. Auflage des Herbstmarktes ein. Jeweils von 11 bis 17 Uhr haben Besucherinnen und Besucher Gelegenheit zu bummeln und sich die Arbeiten regionaler und überregionaler Kunsthandwerker und Produzenten anzusehen.

Neben Mode, Wein, Schmuck, Kränzen und Dekorativem für Haus und Garten dürfen sich die Gäste auf Musik und ein kulinarisches Verwöhnprogramm freuen. Auf den Tisch kommen Wildspezialitäten aus den von Bülow´schen Forsten sowie Gebäck und Marmeladen. Außerdem gibt es frischen Kuchen aus der Gutsküche. Für Kreative ist zudem eine Keramikmalecke eingerichtet.

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Auf der Achterbahnfahrt des Lebens

Belgien, die USA, Spanien, Ost- und Süddeutschland, Neuseeland – die gebürtige Möllnerin Floriana M. Ohldag ist in ihrem Leben ordentlich herumgekommen. 2015 kehrte sie nach Jahren in der Fremde mit ihrem heute dreijährigen Sohn in die Heimat zurück. Im Interview mit Kulturportal-Herzogtum.de spricht die 40-Jährige über ihren langen Weg zur Kunst, das Auf und Ab im Leben und die große Herausforderung, als Künstlerin Fuß zu fassen.

Kulturportal-Herzogtum.de: Frau Ohldag, von dem Lyriker Georg Trakl stammt der Satz „Nur wer dem Glück entsagt, dem wird Erkenntnis“. Was halten Sie von dieser Aussage?

Floriana Meike Ohldag: Wenn ich das höre, ist mein erster Gedanke: Wie schrecklich muss es sein, die Hoffnung auf Glück aufzugeben. Der zweite Gedanke ist, dass ich den Satz so verstehe, dass man durch Erfahrungswelten Erkenntnisse sammelt- und wenn einem alles in den Schoß gelegt wurde, bleibt vieles versagt. Man verpasst die Achterbahnfahrt des Lebens, die einem Kraft und Stärke gibt.

KP: Als Künstlerin oder Künstler ist diese Achterbahnfahrt wahrscheinlich automatisch eingepreist.

Ohldag: Tatsächlich habe ich mir erst mit 35 Jahren zugestanden, freie Künstlerin zu sein.

KP: Das war vor knapp fünf Jahren. Warum hat das so lange gedauert?

Ohldag: Künstlerin war ich schon von Geburt an. Nur wurde es mir nicht zugestanden, Künstlerin zu sein. Die Familienstimmen, die ich in mir trug, sagten mir: Kunst ist brotlos. Ich musste Erfahrungsmomente sammeln und mich emanzipieren, um sagen zu können: Ich traue mich gegen all diese Stimmen zu agieren.

KP: In dem Wort ‚Erfahrungsmomente‘ klingt ihre persönliche Achterbahnfahrt an.

Ohldag: Als 19-Jährige hatte ich bei den Till Eulenspiegel-Festspielen ehrenamtlich die Regieassistenz gemacht. Das war 1997. Das Stück hieß „Der Stein des Anstoßes“ – und war für mich der Anstoß, in die Kreativbranche zu gehen. Aber hier ging es um das Handwerk hinter der Bühne – nicht eindeutig um Kunst.

KP: Was wollten Sie machen?

Ohldag: Ich wollte Regisseurin werden. Leider fehlte mir hierfür in Deutschland das Abitur. Ich hatte eine Studienplatz-Zusage in Amerika, und ich besitze einen vollwertigen American-Highschool-Abschluss – doch fehlte letztendlich das Geld.

KP: Das nennt man wohl eine fatale Lage. Was taten Sie?

Ohldag: Ich nahm mir die Gelben Seiten von Hamburg vor und begann, alle Filmproduktionen abzuklappern. Ich fing bei A an. Bei G bekam ich eine Filmproduktionsassistenz. Eigentlich wollte ich nur ein Praktikum machen. Über diesen Quereinstieg landete ich dann beim Filmschnitt. In dem Job arbeitete ich 80 Stunden, von denen ich nur 40 bezahlt bekam. Ich kündigte schließlich und wanderte nach Teneriffa aus.

KP: Was wollten Sie in Teneriffa?

Ohldag: Ich wollte Spanisch lernen, um später in Barcelona wieder in den Filmschnitt einzusteigen.

KP: Und waren Sie erfolgreich?

Ohldag: Im Spanischen ja, mit dem Barcelona-Plan nein. Denn meine Mutter kam mich besuchen und überredete mich, wieder nach Deutschland zu kommen. Zu Hause hieß es dann: Mach mal was Ordentliches. Also fing ich mit 24 in Baden-Württemberg eine Lehre als Tierarzthelferin an.

KP: Verglichen mit der Filmbranche war die Kunst da aber ganz schön weit weg…

Ohldag: Die Ausbildung brach ich ein Jahr später ab, als meine Mutter plötzlich verstarb. Ihr Tod bedeutete eine Zäsur in meinem Leben, wir waren uns sehr nahe. Zwei Wochen danach bestand ich die Aufnahmeprüfung fürs Hansa-Kolleg*. Um nicht in meiner Trauer unterzugehen, büffelte ich wie verrückt für das Abitur. Mein Vater drängte mich, Anwältin oder Ärztin zu werden. Ich wollte aber Möbeldesign studieren. Weil es das Fach nicht gab, studierte ich schließlich im Erzgebirge Angewandte Kunst, Fachbereich Holzgestaltung…

KP: Das hört sich ziemlich funktionell an…

Ohldag: Ja, es geht da um klassisches Design. Ich habe denn auch schnell gemerkt, dass ich bei den Dozenten nicht gut gelitten war. Ich war zu freigeistig und künstlerisch. Ich hätte eigentlich erkennen müssen, dass es besser gewesen wäre, Bildende Kunst zu studieren.

KP: Das Studium haben Sie doch aber beendet – oder?

Ohldag: Ja. Das Studium fing ich mit 28 an, fertig war ich mit 31.

KP: Wie ging es weiter?

Ohldag: Im ersten Jahr nach dem Studium habe ich mich auf das studierte Produktdesign konzentriert. Ich suchte nach einer Festanstellung, landete aber immer wieder bei Projekten. 80-Stunden-Wochen waren wieder die Regel. Parallel wurde ich vom Jobcenter gefördert. Ich lebte auf sehr kleinem Fuße. Es gelang mir aber in dieser Zeit Ausstell-Chancen auf Möbelmessen in Mailand, New York, Los Angeles und Frankfurt zu ergattern. Eines Tages rief dann eine Berliner Firma an und fragte, ob ich Interesse hätte, an einer Ausschreibung teilzunehmen. Es ging um die Trophäe für den wichtigsten Umweltpreis der EU. Man sollte dafür Materialideen und Konzeptüberlegungen einreichen. Ich habe stattdessen kleine Modelle gebaut, Konzepte und Fotostrecken geschickt.

KP: Und waren Sie erfolgreich?

Ohldag: Ja, ich gewann die Ausschreibung. Das war gut fürs Prestige und hat mir Folgeaufträge beschert. Wegen der EU-Umwelt-Trophäe war ich nun öfter in Brüssel. 2014 hatte ich dort bei der EU-Kommission meine erste Solo-Ausstellung. Eine weitere folgte im Ausschuss der Regionen. Da dachte ich schon, jetzt geht’s steil aufwärts. Doch dann wurde ich überraschend schwanger.

KP: Daraufhin entschlossen Sie sich, nach Mölln zurückzukehren.

Ohldag: Nicht sofort. Ich zog zunächst zum Vater meines Sohnes nach Belgien. Doch es funktionierte nicht mit uns. Die Idee, nach Mölln zurückzukehren, kam von einer Freundin. Sie sagte zu mir, gerade als Alleinerziehende gibt Dir Deine Heimat Wurzeln und Stärke. Die Wege sind Dir vertraut und dein Kind wächst hier in wunderbarer Natur auf.

KP: Bereuen Sie mittlerweile, dass Sie ihrem Rat gefolgt sind? Da gibt es doch diesen Postkartenspruch: Nichts macht dich so fertig, wie die Heimatstadt…

Ohldag: Auf keinen Fall. Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich habe mir ein komplett neues Netzwerk aufgebaut. Unabhängig von der Familie. Doch die Kombi aus alleinerziehend, ohne Familie und freiberuflich ist hardcore.

KP: Da bleibt wahrscheinlich nicht allzu viel Zeit für die Kunst…

Ohldag: Das Problem war die letzten drei Jahre eher der Schlafmangel. Ohne Schlaf bekommt man nichts auf die Reihe. Und doch hat sich einiges getan, seit ich in Mölln bin. In der Kulturwerkstatt der Lebenshilfe habe ich ein Atelier bezogen und mit der Leiterin Almut Grätsch arbeite ich gerade Workshop-Konzepte für Menschen mit und ohne Behinderungen aus. Mein Wunsch ist es, mir über diese sozialen kulturellen Tätigkeiten ein regionales Standbein zu erschaffen.

KP: Das ist aber noch nicht alles. In der Möllner Hauptstraße haben Sie im August eine Galerie eröffnet.

Ohldag: Die Maea Art Gallery – ein Pilotprojekt, eine Wandergalerie. Sie ist eine Art lebendes Schaufenster, um den Leerstand zu verschönern, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, um die Stadtkultur zu beleben. #kunstvollstattleerstand

KP: Frau Ohldag, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen viel Erfolg.

*Staatliche Schule in Hamburg, an der junge Menschen ihr Abitur oder die Fachhochschulreife nachholen können.

Infos zur Maea Art Gallery und zur Kunst Floriana Ohldags:

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/10/01/pop-up-baby/

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/10/01/positives-fuer-die-welt/

http://www.kunst.land

http://www.kofloriana.com

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#MeToo-Debatte – wie damit umgehen?

Das vierte Kunstgespräch in diesem Jahr in der Werkstatt von Hans und Heidrun Kuretzky (Borstorf) widmet sich der #MeToo-Debatte. Es findet am Dienstag, 2. Oktober um 19 Uhr in Borstorf in der Möllner Str. 23 statt. Der Eintritt zu der Veranstaltung der Stiftung Herzogtum Lauenburg ist frei.

Mit dem Künstler Thomas Biller (Mustin) haben die Kuretzkys einen Kreativen mit einem Faible für Spannungsfelder und Abstraktionen eingeladen. Viele kennen die Arbeiten des Fotografen und freien Journalisten aus der Reihe „Dörfer zeigen Kunst“.

Aktuell hat Biller sich künstlerisch mit der „#MeToo“-Bewegung und dem Thema Sexismus auseinander gesetzt. Welchen Einfluss nimmt das auf die Kunst? Billers Anreiz zur Debatte: „Für mich bleibt die Kunst vor allem eines: frei.“

Anmeldungen nehmen die Kuretzkys, erreichbar unter Tel. 04543-396 oder info@kuretzkykeramik.de, oder die Stiftung Herzogtum Lauenburg, erreichbar unter Tel. 04542-87000 und E-Mail info@stiftung-herzogtum.de, entgegen.

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„Die Bauern haben mir nicht mal Milch verkauft“

Rainer Wiedemann ist ein Chronist der Landwirtschaft und des Landlebens. Im Interview mit Kulturportal-Herzogtum.de spricht er über die speziellen Umstände, die ihn dazu machten. Der pensionierte Kunsterzieher, der in Lübecks ländlich geprägten Stadtteil Kronsforde zu Hause ist, hat seit den 70er Jahren unzählige Fotos gemacht und gesammelt, Interviews geführt und immer wieder Ausstellungen auf die Beine gestellt. Derzeit präsentiert er im Herrenhaus des Möllner Stadthauptmannshofes seine große Wanderschau. Darüber hinaus hat der 72-Jährige im Wachholtz-Verlag eine umfassende Dokumentation mit dem Titel „Gute Qualität muss wachsen – Landleben in Schleswig-Holstein damals und heute“ veröffentlicht.

Kulturportal-Herzogtum.de: Herr Wiedemann, Sie sind in Bremen geboren, leben aber seit Jahren im ländlich geprägten Kronsforde. Wie kam es dazu?

Rainer Wiedemann: Als Referendar zog ich in den 70er Jahren mit meiner Frau zunächst nach Lübeck. Wir hatten dasselbe Fach studiert. Ich merkte damals schnell, dass viele Personen sexuelles Interesse an meiner Frau hatten. Nachdem eine andere Person meinen Platz erobert hatte, wollte ich raus aus der Stadt und suchte ein großes Haus für eine Wohngemeinschaft mit Kindern.

KP: Hatten Sie Erfolg?

Wiedemann: Ich kam günstig an einen Resthof, in dem vorher ein Milchgeschäft und eine Gastwirtschaft waren.

KP: Und ihre Beziehung?

Wiedemann: Meine Frau hatte dann immer mal wieder einen anderen Partner. Ich hatte dann eine Freundin, die Pferde haben wollte. Das passte. Ich selber wollte immer schon viel Platz und Raum haben, da ich diesbezüglich großzügig aufgewachsen war. Nur – Land pachten war für mich im ländlich geprägten Kronsforde damals kaum möglich.

KP: Warum nicht?

Wiedemann: Wegen meiner langen Haare und als zugezogener Städter galt ich im Dorf bald als Terrorist. Der Bauer, der mir den Resthof verkauft hatte, um seinen Geschwistern den Erbanteil auszuzahlen, hatte mir das gesteckt. Die Nachbarn im Dorf glaubten, dass ich Maschinengewehre im Haus lagerte. Die Bauern haben mir deshalb nicht mal Milch verkauft. Stattdessen hat man uns angezeigt.

KP: War der Verdacht gerechtfertigt?

Wiedemann: Was ist das für eine Frage! – Wie die Bader-Meinhof-Gruppe fuhr einer meiner Geschwister zufällig einen alten BMW, und es lagen bei uns im Haus Mao-Fibeln und andere kommunistische Literatur herum. Außerdem fanden bei uns große Feten statt. Damit haben wir die Bauern und Alteingesessenen überfordert. Damals war die Angst vor Terroristen groß. Ich bin dann offensiv geworden und habe mich bei allen Bauern als Künstler vorgestellt. Die Anzeige wurde schließlich zurückgenommen.

KP: Land für die Pferde hatten Sie aber immer noch nicht.

Wiedemann: Irgendwann hat ein Bauer uns ein Stück Land gegen den Rat seiner Eltern verpachtet. Dieser Bauer und ein weiterer kamen dann bei mir an und sagten: Wenn du schon Lehrer und Künstler bist, dann kannst du auch eine Kronsforder Chronik schreiben.

KP: Gesagt, getan – oder?

Wiedemann: Ja, sonst hätte ich für lange Zeit kein Bein auf den Boden gekriegt. Eine Alternative wäre gewesen, in die Feuerwehr zu gehen. Da wurde mir aber zu viel getrunken. Die Texte ließ ich dann von einem NDR-Redakteur schreiben. Das Material wie Fotografien und Geschichten, die mir Bauern erzählt hatten, gab ich an diesen weiter. Ich war dann eigentlich nur der Verleger. Ich hatte aber schon vor der Arbeit an der Chronik Zeichnungen von den Bauern und Altenteilern vor ihren Höfen angefertigt und fotografiert. Die Bilder stellte ich bei mir im ehemaligen Tanzsaal der alten Gastwirtschaft aus.

KP: Offensichtlich wurde bei Ihnen durch diese Arbeit Ihr Interesse an der Landwirtschaft geweckt. Wie ging es für Sie weiter in Kronsforde?

Wiedemann: Da ich wollte, dass mehr Kultur auf dem Lande ankommt, habe ich seitdem fast jedes Jahr eine Ausstellung bei mir auf dem Hof gemacht, die mit Landwirtschaft zu tun hatte. Dafür fotografiere ich immer, was es an Neuerungen gibt. Mittlerweile habe ich eine Riesensammlung aufgebaut.

KP: Bisher haben wir ausschließlich über die Bauernschaft in Kronsforde und über Ihr Leben dort gesprochen. Mittlerweile haben Sie Ihren Fokus erweitert.

Wiedemann: Das ist richtig. Es fing damit an, dass ich für die Lübecker Landfrauen Fotografien für einen Kalender gefertigt hatte. Das war der Startschuss. Zunächst wollte ich eine Dokumentation über die Landfrauen schreiben. Geplant waren eine allgemeine Historie und kleine Porträts. Doch die Frauen wollten ihre Erfahrung nicht von denen der Männer trennen. Ich solle mal nicht nur die Frauen im Blick haben, hieß es. Meine Arbeit startete ich dann bei uns im Dorf, mir wurde aber schnell klar, dass diese Sache spannender sein würde, wenn ich den Blick weiten und mich nicht nur um Kronsforde, sondern um ganz Schleswig-Holstein kümmern würde.

KP: Die Höfe, die Sie dann für diese Dokumentation aufsuchten, waren die bewusst ausgewählt?

Wiedemann: Nicht nur. Oft lief das auch über Verbindungen zu anderen Bauern. Häufig wurde ich über Mund-zu-Mund-Propaganda weitergereicht.

KP: Und wie liefen diese Besuche ab?

Wiedemann: Ich führte zweistündige Interviews und blieb manchmal den ganzen Tag vor Ort. Ich fuhr sogar bei der Ernte mit – auf großem landwirtschaftlichen Gerät wie der Rübenmaus, dem Kohlerntewagen oder dem Kartoffel-Vollroder.

KP: Das Ergebnis ist ein dickes Buch über Geschichte und Gegenwart der Landwirtschaft. Sprachen Sie in den Interviews auch die heutigen Probleme an – etwa die Massentierhaltung, die Milchkrise oder das Thema Glyphosat?

Wiedemann Viele Bauern waren nicht bereit, auf kritische Fragen einzugehen, deren Antworten dann gedruckt und veröffentlicht werden sollten. Ich hatte aber den Interviewpartnern zugesichert, dass sie alle Textpartien streichen durften, hinter denen sie nicht hundertprozentig standen. Es sollte keinen Bericht geben, mit dem sie nicht leben konnten.

KP: Das konnte Sie doch nicht zufriedenstellen – oder?

Wiedemann: Ja und nein. Die Lebensberichte der Bauern und Landwirte haben ihre eigene Berechtigung und erzählen authentisch über die Veränderungen in der Landwirtschaft bis heute. Mir fehlte aber eine ganze Reihe von Aspekten, die ich auch im Buch haben wollte. Der Verlag riet mir davon ab. Ich habe deshalb einen Begleitband verfasst und selbst verlegt, der sich vertieft mit einzelnen Fragen der Entwicklung der Landwirtschaft in Schleswig-Holstein und mit den Problemen auseinandersetzt. Den habe ich bei den Ausstellungen immer ausgelegt und meinem Buch über das Landleben beigelegt.

KP: Wie sehen Sie angesichts ihrer aktuellen Probleme die Zukunft der Landwirtschaft?

Wiedemann: Ich glaube, dass wir trotz allem auf einem guten Weg sind. Vorfälle wie die Milchkrise, das Spritzen von Glyphosat, das Überdüngen oder auch das Bienensterben haben dazu geführt, dass sich das Denken allmählich verändert und die Öffentlichkeit kritischer wird. Ein Ausdruck dafür sind die sich mehrenden Biohöfe, die Akzeptanz des ökologischen Anbaus und der Trend zu regionalen Produkten.

KP: Herr Wiedemann, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Die Ausstellung „Landleben“ ist noch bis einschließlich 7. Oktober jeweils sonnabends und sonntags in der Zeit von 11 bis 16 Uhr zugänglich. Der Eintritt ist frei. Zudem bietet Rainer Wiedemann am 7. Oktober um 14 Uhr eine Führung an.

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„Flüchtlinge kommen, um zu überleben“

Rockig fing er an und so endete er auch: Der Michaelisempfang in der St.-Petri-Kirche Ratzeburg. Zahlreiche Gäste aus Politik, Gesellschaft und Kirche mit der Frage nach Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Die „Kirchenband“ sorgte für Auflockerung in dem ernsten Thema.

„Eine andere Jahreszeit ist angebrochen. In diesem Wechsel erinnert der Michaelistag am 29. September an den Erzengel Michael. Michael kämpft mit dem Drachen, so lesen wir es in der Bibel“, begrüßte Pröpstin Frauke Eiben die Besucher. Die immerwährende Auseinandersetzung mit dem Drachen stehe für das Ringen um Gut und Böse – und auch um das Ringen für Gerechtigkeit. „Michael erinnert uns an Gottes Macht über Kälte und Unbarmherzigkeit, an seine Wegbegleitung und ruft uns die guten Mächte in den Blick. Auch die guten Kräfte in jedem von uns“.

Dass es ohne Gerechtigkeit in unserer Welt nicht gehe, ist sich Pröpstin Eiben sicher: „Gerechtigkeit ist ein Grundwort der christlich-jüdischen Tradition. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bücher der Bibel. Sie ist Geschenk Gottes an seine Menschen, sie ist Weisung und Maßstab für unser Denken und Handeln, sie ist Ziel und Inhalt der Predigt Jesu und ruft uns auf zu bedenken, wie wir einander gerecht werden“. Die Pröpstin zitierte den Theologen Gerhard von Rad: „Es gibt im Alten Testament keinen Begriff von so zentraler Bedeutung schlechthin für alle Lebensbeziehungen des Menschen wie den der Gerechtigkeit. Er ist der Maßstab nicht nur für das Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern auch für das Verhältnis der Menschen untereinander bis hin zur belanglosesten Streiterei, ja auch für das Verhältnis des Menschen zu den Tieren und zu seiner naturhaften Umwelt“.

„Für mich eine wunderbare Definition. Wo immer die Beziehungen in eine Schieflage geraten sind: zu anderen Menschen, zur Mitwelt, zur Gemeinschaft, zu mir selbst und zu Gott kommt es darauf an, darum zu ringen, dass es wieder richtig wird. Und ich vermute, sie teilen meine Sorgen, dass es in unserem Land und in unserer Welt eine ganze Reihe von Beziehungen gibt, die in Schieflage geraten sind“, so Frauke Eiben. Mit St. Michael müsse es darum gehen, gegen die Drachen der Zeit Angst, Neid, ungebremstes Mehr-haben-wollen, Hass und Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen“. Auch in Beziehungen sei ein eine lebenslange Aufgabe, an der Gerechtigkeit zu arbeiten.

Mit Uta Röpcke, Flüchtlingskoordinatorin im Kreis Herzogtum Lauenburg, Professor Dr. Frank Rose, Leiter des Amtsgerichtes in Ratzeburg, Dirk Petersen, Bürgermeister in Wentorf und Frank Tews, Mitarbeiter der Schuldnerberatung im Diakonischen Werk Herzogtum Lauenburg, ging die Pröpstin in eine Diskussion über Gerechtigkeit. „Fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung haben nicht genug zu essen“, so Uta Röpcke. Flüchtlinge würden aus einem einfachen Grund nach Deutschland oder Europa kommen: Um zu überleben. „Um sie besser zu integrieren, muss aber noch viel geschehen – politisch wie gesellschaftlich“. Frank Rose sprach darüber, wie Juristen der Gerechtigkeit im Alltag ihren Weg bahnen können: „Dafür legen wir einen Eid ab“. Doch auch sie stoßen in der Praxis an ihre Grenzen. Dass auch Kommunen sich an Gerechtigkeit beteiligen können, berichtete Dirk Petersen: „Wir wollen eine Fairtown-Gemeinde werden und damit einen kleinen Beitrag für die Gerechtigkeit in der Welt leisten“.

„Ich verzeichne pro Jahr rund eintausend überschuldete Ratsuchende“, so Frank Tews. Das seien zehn Prozent der der Einwohner im Kreis. Er verwies darauf, dass ökonomische Gerechtigkeit oft von der Bildung abhänge. So habe er aktuell einen Fall, in dem ein dreijähriges Kind der Kita-Platz gekündigt wurde – die Eltern können das Geld nicht bezahlen. „Diesem Kind wird vom Beginn seines Lebens die Armut weitergeben“.

Dass in Gesellschaft, Staat und Kirche noch einige Anstrengungen nötig sind, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, waren sich die Diskutierenden einig.

 

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„Es braucht mehr Kontakt und mehr Begegnungen“

Während die Öffentlichkeit seit Wochen und Monaten über Abschiebungen und eine härtere Gangart in der Flüchtlingspolitik diskutiert, bemühen sich landauf, landab Menschen um die Integration von Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Die Debatte hat deren Arbeit nicht leichter gemacht, wie Uta Röpcke, Flüchtlingskoordinatorin für den Kreis Herzogtum Lauenburg, im Interview mit Kulturportal-Herzogtum.de zu berichten weiß.

Kulturportal-Herzogtum.de: Frau Röpcke, wie schwierig ist Ihr Job angesichts von Ablehnung und zum Teil sogar Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen, die wir seit geraumer Zeit erleben?

Uta Röpcke: Wir als Kreisverwaltung kriegen da gar nicht so viel ab. Das Ehrenamt kriegt es ab. Dabei nimmt die Bereitschaft, sich zu engagieren, ohnehin ab. Diese Stimmungslage trägt natürlich nicht gerade dazu bei, das umzukehren. 2015/2016 zu ‚Wir-schaffen-das-Zeiten‘ war noch alles toll. Heute muss sich das Ehrenamt mit der Frage auseinandersetzen, warum tust du dir das an?

KP: Haben Sie konkrete Beispiele?

Röpcke: Ein Thema ist der Wohnraum. Viele Flüchtlinge im Kreis sind als Obdachlose untergebracht. Das Ehrenamt hilft diesen Menschen bei der Wohnungssuche. Denen wird dann gesagt: Wenn Sie für einen Flüchtling fragen wollen, rufen Sie mich bitte nicht mehr an. Da gibt es klare Diskriminierungstendenzen.

KP: Liegt das an den Vorurteilen der Leute?

Röpcke: Das ist schwer zu beurteilen. Vielleicht hat da mal jemand schlechte Erfahrungen gemacht. Man kann auch schlechte Erfahrungen mit anderen Mietern machen. Bei Flüchtlingen lässt sich das aber viel leichter verallgemeinern. Aus einer negativen Einzelerfahrung bildet sich ein Vorurteil.

KP: Was kann man dagegen tun?

Röpcke: Ich glaube, dass es noch viel mehr Gelegenheiten zum Kontakt braucht. Im Alltag, aber auch wenn es darum geht, zusammen etwas auf die Beine zu stellen und zu feiern. Derzeit kann man leider beobachten, dass Gruppen von Flüchtlingen unter sich bleiben – beispielsweise in Geesthacht in der Mercatorstraße oder am Südring Wentorf. Früher gab es noch mehr Patenschaften – Leute, die mit den Flüchtlingen mal zum Schwimmen oder mal zum Einkaufen gehen.

KP: Wie will der Kreis diesem Negativtrend begegnen?

Röpcke: Wir arbeiten derzeit an einem Integrations- und Teilhabekonzept. Was können wir als Landkreis tun? Was haben wir für eine Haltung in der Sache? Wie kriegen wir unser Leitbild am besten umgesetzt? Welche Ziele setzen wir uns für die lokale Ebene in Zusammenarbeit mit den Städten und Ämtern?

KP: Jenseits solch grundsätzlicher Zielvereinbarungen – was geschieht aktuell?

Röpcke: Wir haben uns am Veranstaltungsflyer „Interkulturelle Begegnungen“ im Kreis Herzogtum Lauenburg 2018 beteiligt. Kreisweit haben wir uns darauf verständigt, dass statt eines großen Willkommensfestes diverse Begegnungsfeste auf lokaler Ebene stattfinden. In den Kommunen sind schließlich die Leute – die Sprach- und Kulturmittlerinnen und -mittler. Da gibt es Literatur, Musik, Essen und Tanz. Wir veranstalten im November die Regionalkonferenz ‚So geht Integration!‘ mit einigen Positivbeispielen aus unserem Kreis. Sie erzählen ihre Fluchtgeschichte, wie sie hier angekommen sind, welche Hürden sie nehmen mussten. Auf diese Weise bekommen die Geflüchteten ein Gesicht.

KP: Demnächst steht ja auch bundesweit die „Interkulturelle Woche“ an. Sind Sie da auch mitbeteiligt?

Röpcke: Wir zeigen in der Kreisverwaltung die Ausstellung „Menschen – Feste – Schicksale“, die am 29. August eröffnet und auch während der „Interkulturellen Woche“ zu sehen sein wird.

KP: Wie kam es zu der Ausstellung?

Röpcke: Auf die Ausstellung sind wir aufmerksam geworden, weil die Diakonie Norderstedt sie gezeigt hat. Die Schau zeigt, wie emotional Feste und Traditionen verankert sind. Sie gibt aber auch Anknüpfpunkte, emotionale Bezüge zu schaffen, die sich teilen lassen.

KP: Wir haben jetzt mehrmals das Wort „interkulturell“ verwendet. Was bedeutet Interkulturalität überhaupt?

Röpcke: Ich tue mich schwer mit dem Begriff. Pragmatisch betrachtet meint er die Begegnung zwischen der einen und der anderen Kultur. Aber eine Kultur ist für mich immer nur ein Modell, das in seiner Reinform gar nicht existiert. Ich gehe da lieber vom Individuum aus. Menschen haben unterschiedliche Erfahrungshorizonte. Eine als homogen verstandene Kultur kann dagegen zu Vorurteilen führen.

KP: Frau Röpcke, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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Schmöker über das Landleben

Für die Recherchen seines Buches „Gute Qualität muss wachsen“ ist Rainer Wiedemann viel unterwegs gewesen. Er hat Höfe im Norden und Süden Schleswig-Holsteins besucht. Er hat sich Richtung Osten und Richtung Westen auf den Weg gemacht. Herausgekommen ist ein 256 Seiten umfassender Schmöker mit Bildern und Texten.

Geschichte und die Geschichten diverser Bauern finden sich darin. Bio-Landwirte sind ebenso vertreten wie auch herkömmliche Landwirte. Es tauchen Menschen wie der 1983 in Pforzheim geborene Philipp Hennig auf, die Landwirtschaft in einer Hofgemeinschaft betreiben oder der Ruheständler Martin Störtenbeker, der auf der Insel Fehmarn einen Hof führte. Ein Hof mit Tradition. Die Familie ist nachweislich bereits seit rund 200 Jahren auf der Insel vertreten. Martin Störtenbeker, Jahrgang 1939, hat den Zweiten Weltkrieg als Kleinkind miterlebt. Er erinnert sich, wie seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes ab 1944 die Geschicke des Hofes übernahm und bis in die 60er Jahre hinein nicht mehr abgab.

Manche von seinen Interviewpartnern seien „froh“ über seinen Besuch gewesen, sagt Rainer Wiedemann rückblickend. Es habe sie gefreut, dass ihnen da plötzlich jemand gegenübersaß, der ihre Familiengeschichte aufschrieb. Umgekehrt habe es auch Leute gegeben, die froh gewesen seien, wenn er wieder weg war.

Wiedemanns oberste Maxime für die Interviews war, seine Gesprächspartner „nicht zu bedrängen“. Auf diese Weise hätten sie „alle freisprechen können“. Bei der Wiedergabe der Interviews habe er sich bemüht, alles „so sachlich wie möglich festzuhalten“. So hätten seine Gesprächspartner freisprechen und missliebige Bemerkungen aus dem Manuskript streichen können. Dies sei in der Regel aber kaum geschehen, so Wiedmann.

„Gute Qualität muss wachsen“ ist 2017 im Wachholtz-Verlag erschienen und hat die ISBN-Nummer 978-3-529-05190-6.

Im Möllner Stadthauptmannshof zeigt Rainer Wiedemann derzeit seine gleichnamige Ausstellung „Gute Qualität muss wachsen“, die noch bis einschließlich 7. Oktober jeweils sonnabends und sonntags in der Zeit von 11 bis 16 Uhr zugänglich ist. Der Eintritt ist frei. Zudem bietet Rainer Wiedemann am 7. Oktober um 14 Uhr eine Führung an.

Mehr Infos über Rainer Wiedemann und seine Ausstellung:

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/09/24/die-bauern-haben-mir-nicht-mal-milch-verkauft/

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/09/24/gute-qualitaet-muss-wachsen/

 

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„Gute Qualität muss wachsen“

Die Debatten um Massentierhaltung, Glyphosat und Gentechnik zeigen: Landwirte und Verbraucher haben sich weit voneinander entfernt und sich außer gegenseitige Vorhaltungen nicht viel zu sagen. Ein untragbarer Zustand. Schließlich brauchen beide Seiten einander. Ein erster Schritt aus der Beziehungskrise wäre, wenn die Beteiligten aufeinander zugehen und das Gespräch suchen würden. Gelegenheit dazu gibt die Ausstellung „Gute Qualität muss wachsen – Landleben in Schleswig-Holstein damals und heute“, die noch bis Sonntag, 7. Oktober, im Möllner Stadthauptmannshof zu sehen ist. Der ehemalige Kunsterzieher Rainer Wiedemann aus Lübeck-Kronsforde widmet sich darin der Entwicklung der Landwirtschaft sowie dem Arbeitsalltag der Bauern.

Seine Fotografien hat Wiedemann mit erklärenden Texten versehen. Themen sind neben der herkömmlichen Landwirtschaft auch der Ökolandbau und die Ökoviehhaltung. Zudem geht sein Blick zurück bis in die Kriegszeit. Wie wurden damals die Felder bestellt? Welche Hilfsmittel gab es? Wie stand es um die Tierhaltung? Außerdem zeichnet er die Arbeit der Bauern im Zyklus der Jahreszeiten nach. Ergänzt wird die Ausstellung von Leihgaben des Museums „Vergessene Arbeit“ in Steinhorst, das von der Bezirksgruppe Steinhorst-Sandesneben im Heimatbund und Geschichtsverein Herzogtum Lauenburg betrieben wird.

Die Ausstellung ist jeweils sonnabends und sonntags in der Zeit von 11 bis 16 Uhr zugänglich. Der Eintritt ist frei. Zudem bietet Rainer Wiedemann am 7. Oktober eine Führung an. Gestartet wird um 14 Uhr.

Infos über Rainer Wiedemann und über seine Arbeit:

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/09/24/die-bauern-haben-mir-nicht-mal-milch-verkauft/

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/09/24/schmoeker-ueber-das-landleben/

 

 

 

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Ein Hauch von Blues im Lämmerhof

Alle Wege führen in den Lämmerhof (Mannhagen): In den kommenden Wochen machen sich diverse Vertreter der Singer-Songwriter-Szene dorthin auf. Die „Stalltournee“ startet am Freitag, 28. September, mit dem Auftritt des bluesorientierten Dänen Tim Lothar. Lothar heimste für seine Musik bereits mehrfach Preise ein. Ein weiterer Höhepunkt steht am 10. November an, wenn Mathew James White die Bühne betritt.

Eine Gitarre, eine starke Stimme und sehr persönliche Songs in einer Intensität, die atemlos macht – damit packt Tim Lothar sein Publikum.

Tim Lothar, aufgewachsen in Kanada, spielt in Clubs und auf Festivals in ganz Europa. Als Solokünstler präsentiert er fast ausschließlich eigene Songs. Eigene Erlebnisse und beobachtete Begebenheiten liefern ihm jede Menge Material.

Sein erstes Album erhielt weltweit beste Kritiken. Für das zweite Album bekam Tim Lothar zwei der wichtigsten dänischen Preise. Im Lämmerhof präsentiert er sein neuestes Album.

„Wir freuen uns riesig, dass wir so tolle Musiker wie Tim Lothar dafür gewinnen konnten, in den Lämmerhof zu kommen, fiebert Veranstalter Christian Brüggemann dem Auftakt der „Stalltournee“ entgegen.

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Ausstellungen Nördlich der A24

„Ich war vom Sozialismus überzeugt“

Andreas Wagner, Jahrgang 1964, leitet seit 2013 das Grenzhus in Schlagsdorf. Er wuchs in der DDR auf, war Mitglied der SED und leistete drei Jahre Armeedienst. Von 1985 bis 1990 studierte er Geschichte und Marxismus-Leninismus. Als sich der Widerstand gegen das SED-Regime formierte und in Leipzig Ende der 80er Jahre die Montagsdemonstrationen stattfanden, blieb er zunächst auf Distanz. Wagner, Kind einer Arbeiterfamilie, glaubte noch an die DDR. Nach der Wende lernte und forschte er in Rostock und Hamburg.

Im Interview mit Kulturportal-Herzogtum.de spricht er darüber, wie der „alte“ Andreas Wagner den jungen heute sieht und welche Rolle seine Biografie für das Grenzhus spielt.

Kulturportal-Herzogtum.de: Herr Wagner, was haben Sie am 9. November 1989 gemacht?

Andreas Wagner: Das weiß ich nicht mehr.

KP: Das wissen Sie nicht mehr?

Wagner: Die Reisefreiheit war eine schöne Sache, aber mir war es damals wichtiger, wie es mit der DDR weitergeht, wie man einen besseren Sozialismus entwickeln kann.

KP: Was haben Sie in der Zeit gemacht?

Wagner: Ich habe in Leipzig studiert…

KP: …wo im Herbst ´89 die Montagsdemonstrationen gegen die SED stattfanden.

Wagner: Genau. Montags habe ich damals immer in einem auswärtigen Archiv geforscht. Die Vorbereitungen für die Demonstrationen bekam ich auf den Weg zum Bahnhof mit. Am 7. Oktober 1989 musste ich mit ansehen, wie Menschen vor der Nikolaikirche von der Polizei auseinandergetrieben wurden. So eine Gewalt hatte ich bis dahin nicht erlebt. Entsprechend angespannt war die Atmosphäre in der Stadt vor dem Durchbruch am 9. Oktober. Bei der übernächsten Demonstration bin ich dann mitgegangen.

KP: Warum nicht vorher?

Wagner: Ich habe über viele Dinge damals anders gedacht als heute. Ich war von der Idee des Sozialismus überzeugt. Gleichzeitig war mir klar, dass sich etwas in der DDR verändern muss. Aber ich habe das bestehende System nicht in Frage gestellt. Ich hätte damals kritischer auftreten können, als ich es gemacht habe. Das beschämt mich heute.

KP: Worüber denken Sie heute anders?

Wagner: Über vieles. Aber im Rückblick ist mir bewusst, welche geringe Bedeutung damals Begriffe wie Individualität, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für mein Denken hatten.

KP: Welche Vorstellung hatten Sie vom Sozialismus?

Wagner: Angestoßen durch die Perestroika-Politik von Gorbatschow wuchs meine Hoffnung auf einen dritten Weg, einen demokratischen Sozialismus, in dem Mitbestimmung, Offenheit und Meinungsstreit möglich sind. Doch in der DDR bewegte sich kaum etwas. Es war eine bleierne Zeit. Wirtschaftlich wuchsen die Schwierigkeiten. Die Gebäude zerfielen. Die Atmosphäre war wie verriegelt und zugemauert. Wir stritten um Begriffe, weil wir nicht mehr mit den alten Losungen auf die 1. Mai-Demonstration gehen wollten. Wir merkten gar nicht, wie die Zeit darüber hinwegging.

KP: Und dann kam die Wende und schließlich das Ende der DDR. Sie waren ausgebildeter Lehrer für Marxismus-Leninismus.

Wagner: Letztendlich war es ein Geschichtsstudium und mich lockte die Forschung. Trotz mancher Einschränkungen haben wir das Handwerkszeug eines Historikers gelernt. Davon zehre ich heute noch. Das Studium hat mir inhaltlich und fachlich viel gegeben. Wir hatten Lehrer, die auch international mitreden konnten.

KP: Trotzdem stelle ich es mir schwierig vor, sich unter diesen Vorzeichen in der sich mit einem Schlag ändernden Forschungslandschaft zu behaupten. Es gab doch bestimmt Vorbehalte.

Wagner: Vorbehalte spielten weniger eine Rolle. Für junge Leute boten sich viele neue Chancen, zum Beispiel durch Sprachkurse, Studienaufenthalte im Ausland und die neuen Forschungsfreiheiten. Schwieriger wurde es nur, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen und nach der Ausbildung einen bezahlten Job zu finden. Vorbehalte habe ich kaum gespürt, am Anfang gab es sogar ein großes Interesse an den DDR-Lebenserfahrungen. Für viele Bundesdeutsche war es ein fremdes Land. Ich habe überwiegend einen respektvollen Umgang kennengelernt. In Hamburg wollte mein betreuender Professor wissen, was ich an der Leipziger Uni gelernt hatte, das war wichtiger als meine DDR-Prägungen.

KP: Heute sind Sie promovierter Historiker und seit 2013 Projektleiter im Grenzhus. Welche Rolle spielen Ihre persönlichen DDR-Erfahrungen in der Arbeit?

Wagner: Die spielen eher eine untergeordnete Rolle. Die museale Arbeit orientiert sich an wissenschaftlichen Kriterien. Unsere Erkenntnisse müssen belegbar, überprüfbar und in historische Zusammenhänge eingebettet sein. Wir wollen zu einem (selbst-)kritischen Nachdenken über Geschichte und Gegenwart beitragen. Im Unterschied zur DDR-Erinnerungspolitik geht es uns nicht um Bekenntnisse zu politischen Vorgaben, sondern um Fragen an die Geschichte. Wir wollen zeigen, welche Konsequenzen das Handeln von Menschen hatte, damit wir zukünftig sensibel dafür sind.

KP: Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Grenzhus?

Wagner: Ausgangspunkt unserer Erinnerungsarbeit sind die Opfer des DDR-Grenzregimes. Wir erzählen diese Schicksale, damit sich solche Menschenrechtsverletzungen nicht wiederholen. Gleichzeitig fragen wir nach den Funktionsmechanismen des Systems. Dabei geht es um Zwang und Angst, aber auch Identifikation und Mitmachen und um die vielen Zwischenstufen, die das Leben in einer Diktatur ausmachen. Und wir wollen dazu beitragen, Trennendes zu überwinden. Die ideologische Konfrontation im Kalten Krieg sowie der Umbau Ostdeutschlands haben Gräben hinterlassen. So wollen wir auch einen Beitrag zur Überwindung von Mauern in den Köpfen leisten, gerade an der ehemaligen Trennlinie zwischen Ost und West.

KP: Und erreichen Sie die Menschen? Gibt es Rückmeldungen

Wagner: Viele sagen uns, dass wir so weitermachen sollen. Einige melden sich im Nachhinein und sagen: „Das habe ich damals gar nicht so gesehen.“

KP: Herr Wagner, ich danke Ihnen für das spannende Gespräch.

Infos zur neuen Dauer- und einer weiteren Ausstellung im Grenzhus:

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/08/20/multimediale-grenzgeschichten-fuer-die-naechste-generation/

https://kulturportal-herzogtum.de/2018/08/20/heimat-ich-bin-ein-mensch-2/