Es ist der erste Exodus, der da im 16. November 1945 von statten geht. Herden von Rindern, Schafen und Pferden drängen sich auf der Straße. Landwirtschaftliches Gerät wird abtransportiert. Hier und da ist das laute Donnern eines Panzers zu vernehmen.
Hab
und Gut von Bauern, die östlich des Schaalsees zu Hause sind, verschwinden an
diesem Tag Richtung Westen. Seit dem 14. November wissen die Menschen aus
Lassahn, dass ihre Heimat ab dem 28. November zur sowjetischen Einflusszone
gehört, die Dechower und Thurower erfahren es am Tag darauf. Im Gegenzug gehen
Römnitz, Bäk, Mechow und Ziethen an die Briten. General Colin Muir Barber und
Nikolai Grigorjewitsch Ljaschtschenko haben sich darauf geeinigt. Es ist ein
von den Briten angeschobener Deal, weil die Gebiete östlich vom Schaalsee für
sie nur schwer zu erreichen waren.
Der zweite Exodus startet eine Woche später: Die Menschen aus der Region östlich des Schaalsees verlassen in Scharen ihre alte Heimat. Allein aus Dechow fliehen mehr als 1.000 Menschen der 1.237 Einwohner. Offensichtlich schreckt es einen Großteil der Menschen ab, der Herrschaft Stalins ausgesetzt zu sein.
Rund
75 Jahre nach diesem Ereignis widmet sich das Grenzhus Schlagsdorf diesem
Ereignis. Die Einrichtung sucht Zeitzeugen, die sich an das Geschehen in der
Region Mitte der 40er Jahre erinnern. Welche Emotionen verbinden diese Menschen
mit dem Barber-Ljaschtschenko-Abkommen? Wie blicken sie heute auf den Vertrag
zurück? Was bedeutete das Abkommen kurz- und langfristig für die Region
diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs? Auf diese und weitere Fragen
hofft das Grenzhus Antworten zu bekommen.
Zeitzeugen können sich per Mail unter info@grenzhus.de sowie telefonisch unter der Rufnummer 038875-20326 melden. Weitere Infos zu der Einrichtung gibt es unter www.grenzhus.de.
Das Grenzhus Schlagsdorf arbeitet derzeit an einer Ausstellung zum Barber-Ljaschtschenko-Abkommen – einem Gebietstausch zwischen den Besatzungsmächten Großbritannien und der Sowjetunion im November 1945 – rund ein halbes Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Tausch fand direkt vor unserer Haustür statt. Er betraf Dörfer im Lauenburgischen und Mecklenburgischen. Mit Jochen Friedrich hat das Grenzhus einen Zeitzeugen aus Hakendorf ausfindig machen können. Leiter Andreas Wagner sprach mit ihm über seine Erinnerungen.Hier lesen Sie seinen Bericht.
Jochen Friedrich ist 1931 in Schlesien geboren. Die Familie
betreibt in Metkau (heute Mietków) bei Breslau eine kleine Landwirtschaft. Sie flüchtet
Ende des Krieges mit vier Pferden und zwei Wagen in Richtung Westen und landet in
Britz bei Eberswalde. Sieben Menschen gehören zur Gruppe, darunter Stiefvater,
Mutter und Jochen Friedrich.
Ende April 1945 erreicht die Gruppe Schwerin. Von dort zieht
sie weiter Richtung Westen. In Bennin, dann Tüschow (südöstlich von Zarrentin)
und Granzin (bei Boizenburg) finden die Flüchtenden schließlich Unterkünfte. Das
Kriegsende nehmen sie kaum wahr. Als die Briten Westmecklenburg am 1. Juli 1945
an die Russen übergeben, dürfen sie vom Stall in ein Zimmer ziehen. Von Juli
bis Dezember 1945 kommen sie in einer leerstehenden Jagdhütte, ohne Strom und
Wasser, unter.
Die Versorgung der Pferde gehört zu den Pflichten von
Jochen Friedrich. Schon früh geht er mit ihnen los, damit sie am Wegesrand
Futter finden. Eine Weide haben sie nicht. Das Hab und Gut der Flüchtlinge ist
auf dem größeren und gummibereiften Wagen untergebracht: Kleidung, Waschwanne
und Betten. Auf dem kleineren transportieren sie Hafer für die Pferde.
Weihnachten 1945 hört der Stiefvater von den leergezogenen Dörfern
am östlichen Schaalseeufer. Fast alle Einwohner sind den abziehenden Briten
gefolgt. Der Stiefvater erkundet die Lage und findet ein leeres Haus in
Hakendorf. In dem Ort sind nach Abzug
der Briten nur noch zwei Häuser bewohnt: Familie Bruhn und Fischer Drostatis. Am
2. Januar 1946 zieht die Familie in das abgelegene Dorf nördlich von Zarrentin.
Sie hat Glück – im Stall liegt das ungedroschene Getreide, in der Miete die
Futterrüben. Die Felder sind bestellt.
Dennoch ist der Anfang schwer. Es fehlen Technik und
Werkzeuge. Das Dorf ist von der Außenwelt abgeschnitten und das Grundwasser
liegt tief. Im Dorf sind sowjetische Soldaten für den Grenzdienst untergebracht.
Sie beanspruchen oft Pferd und Wagen für Transporte in die umliegenden Orte,
was man ihnen nicht verweigern kann.
Besonders aufwändig ist der Transport der gemolkenen Milch.
Jeden Tag muss sie in die 13 Kilometer entfernte Molkerei nach Zarrentin gebracht
werden. Die Familien aus dem Dorf wechseln sich mit dem Transport ab.
Mangelware sind in diesen Tagen Schmiede und Eisenmaterial.
So geht der Stiefvater im ersten Winter mit den Pferden über den zugefrorenen
Schaalsee nach Schleswig-Holstein, um die Pferde beschlagen zu lassen oder
Hufnägel und Hufeisen gegen Butter zu tauschen.
1950 verlässt Jochen Friedrich Hakendorf, um auf die Landwirtschaftsfachschule
zu gehen. Nach einem schweren Unfall geben Stiefvater und Mutter die
Landwirtschaft 1960 auf und verlassen Hakendorf. Der Stiefvater stirbt 1962.
Die Häuser in Hakendorf fallen in den 1970er Jahren der DDR-Grenzsicherung zum Opfer. Auch das Haus, in dem Jochen Friedrich 1946 eine neue Heimat findet, muss weichen. Heute lebt er in Hagenow. Gleichwohl lässt ihn sein altes Zuhause nicht los. Er sucht Kontakt zu Alt-Hakendorfern, die 1945 das Dorf verlassen haben.
Langsam und unaufhörlich frisst sich das Virus in die letzten Poren der Weltgesellschaft. Es tötet. Es zersetzt das wirtschaftliche und das kulturelle Leben. Ausnahmen? Gibt es nicht. Covid-19 kann nicht anders. Es folgt seiner Programmierung.
Für uns alle ist das schwer erträglich. Zumal es jenseits der eigenen vier Wände kaum noch Raum für Ablenkung gibt. Die Kontaktsperre setzt uns enge Grenzen. Kein Picknick im Freien. Kein Fahrradausflug ins benachbarte Bundesland. Mecklenburg-Vorpommern hat seine Grenzen dicht gemacht. Kein Grund zur Klage: Wir Schleswig-Holsteiner halten es genauso.
Und jetzt kommt noch Ostern. Vier freie Tage bei womöglich schönstem Wetter. Wie da Haltung wahren? Eine positive Grundstimmung gewinnen? Nicht leicht. Und es wird nicht leichter, je länger man drüber nachdenkt.
Vielleicht hilft es, wenn wir uns vergewissern, wie kostbar die Freiheiten sind, die unser Land in „normalen“ Zeiten auszeichnet. Vielleicht ist es tröstlich, dass diese Freiheiten wiederkehren werden. Vielleicht hellt es auch Ihre Stimmung auf, wenn Sie hören, wie Pastorin Hilke Lage – trotz Kontaktsperre – dem Osterfest frohen Mutes entgegenblickt. Kulturportal-Herzogtum.de hat mit der Seelsorgerin über ihre Arbeit in Zeiten von Corona gesprochen. Das Telefonat haben wir aufgezeichnet und veröffentlichen es als Podcast.
Das gilt auch für das Gespräch, das Kulturportal-Herzogtum.de mit Lothar Obst geführt hat. Der Geschichtsexperte, der sich als Tutor für die Akademie der Stiftung Herzogtum Lauenburg engagiert, erklärt im Interview die historischen Hintergründe, die zur Kreuzigung von Jesus Christus führten.
Mögen diese Podcasts Hoffnung, Ablenkung und Anlass zum Nachdenken sein.
Die Stiftung Herzogtum Lauenburg wünscht Ihnen ein frohes Osterfest!
Die neue Ausgabe von „Unser Herzogtum“ ist raus. Das von „Klar & Deutlich Media“ herausgegebene Magazin enthält wieder jede Menge spannende Storys aus der Region, darunter eine Fortsetzungsgeschichte über Karlheinz Goedtke, die Klaus Schlie, Präsident der Stiftung Herzogtum Lauenburg und Vorsitzender des Freundeskreis Karlheinz Goedtke verfasst hat. Den ersten Teil veröffentlicht Kulturportal-Herzogtum.de mit freundlicher Genehmigung von „Klar & Deutlich Media“. Zur gesamten Ausgabe geht es hier.
Karlheinz Goedtke Bildhauer und
Grafiker aus Mölln – Teil I
„Als 1955 Schüler meiner zehnten Klasse für eine Gemeinschaftsarbeit Motive aus der Kunstlandschaft Schleswig-Holsteins suchten, da wählten sie für das Herzogtum Lauenburg neben dem Ratzeburger Dom den Eulenspiegel auf dem Möllner Marktplatz. Sie sahen in dieser lebensgroßen Figur den Geist Eulenspiegels, wie er ihnen aus der Literatur geläufig war, so vollendet eingefangen und einbezogen in die Umgebung, dass er ihnen Funktion oder Teil des historischen Marktes schien“. So beschrieb Hans Jürß in einer Laudatio 1977 das sicher bekannteste Werk des Möllner Bildhauers Karlheinz Goedtke. Bereits diese erste öffentlich aufgestellte Plastik auf dem Marktplatz in Mölln besitzt „symbolische Kraft“ für die Stadt Mölln, in der Till Eulenspiegel bis heute „lebt“.
„Zauber der Identifikation“ nennt es der Autor Karl Strube in einem Aufsatz über Goedtke. Dieser „Zauber der Identifikation“ wird bei uns im Kreis Herzogtum Lauenburg durch sehr viele Werke von Goedtke deutlich. Gleich, ob der „Junge Weidehengst“ in Ratzeburg als Symbol, das sich im Wappen des Kreises wieder findet oder die „Wölfe“ in Schwarzenbek, der „Lauenburger Rufer“ oder der „Taschenmann“ vor dem Kreissparkassengebäude in Ratzeburg – immer ist die Plastik Goedtkes ein Symbol für den Ort, wo sie aufgestellt ist.
Über 500 plastische Werke stehen als „Kunst im öffentlichen Raum“ auf Wegen oder Plätzen oder finden ihren Weg in die privaten Sammlungen. Unbekannter sind dagegen Goedtkes Skizzen und Zeichnungen, die in kleiner Auflage gedruckt wurden. Noch unbekannter sind eine ganze Reihe von Skizzenbüchern, die seit den frühen siebziger Jahren auf vielen Reisen durch Europa und dem afrikanischen Kontinent entstanden sind. Auf diesen Reisen fand Goedtke zahlreiche Anregungen für seine neuen Motive.
Die Begegnungen mit den Menschen und den Tieren Afrikas, die Safaris in die Steppen, Savannen und Wüsten hat der Künstler in einer Vielzahl von Motiven verewigt. Diese „kleinen Arbeiten“ waren sicherlich auch die entscheidende Anregung zur weiteren Arbeit in seinem Atelier in Alt-Mölln. Die kompletten Darstellungen von Nashörnern, Elefanten oder die stolze Haltung einer Beduinengruppe haben ihren Ursprung in diesen Reisen, die den künstlerischen Horizont von Karlheinz Goedtke entscheidend erweitert haben. Bereits 1990 wurde in den Räumen der Stiftung Herzogtum Lauenburg als „besondere Auszeichnung des Künstlers Karlheinz Goedtke“ eine permanente Ausstellung seiner Werke im Stadthauptmannshof in Mölln eröffnet, die allerdings nicht lange Bestand hatte.“
Klaus
Schlie
Teil
II erscheint in Ausgabe 18 von „Unser Herzogtum“.
Überall im Land ist das kulturelle Leben zum Erliegen gekommen. Es kann nicht mehr geprobt, geschweige denn aufgetreten werden. Wie lange werden diese Einschränkungen bleiben? Was für Folgen hat das für den KulturSommer am Kanal? Diese Fragen treiben Intendant Frank Düwel und Managerin Farina Klose in diesen Tagen um. In einem offenen Brief haben Sie sich nun an Künstler, Kulturträger, Helfer und Publikum gewandt. Hier das Schreiben im Wortlaut:
„Liebe Freunde, Kulturschaffende, liebe Gäste des KulturSommers am Kanal,
auch wir haben in den letzten Wochen die Entwicklungen der Covid-19-Pandemie
verfolgt. Wie wahrscheinlich viele von Ihnen sind wir mit einer Situation
konfrontiert, die wir so noch nicht erlebt haben und deren Entwicklung wir
nicht abschätzen können.
Aus diesem Grund möchten wir mit der Entscheidung, ob der
KulturSommer am Kanal innerhalb des geplanten Zeitraumes vom 07.06. – 06.07.
diesen Jahres stattfinden kann, bis zum 20. April warten.
Produktionen / Proben
Sicher ist, dass sich das Programm in diesem Jahr in Umfang
und Form der Veranstaltungen verändern wird, da zur Zeit alle Proben und
Treffen zu den Produktionen ruhen. Dies betrifft die Eröffnung in Büchen, das
Kanu-Wander-Theater, Beat ´n Dance und weitere Produktionen.
Der Reisebegleiter /Programmplanung
Angesichts der Ungewissheit werden wir den Reisebegleiter
nicht im gewohnten Print-Format publizieren. Durch die große Anzahl an Einzelveranstaltungen,
an denen viele Kunst- und Kulturschaffende beteiligt sind, ist das Risiko groß,
dass das Heft bei Redaktionsschluss schon nicht mehr aktuell ist. Um flexibler
auf mögliche Inhalts- und Terminänderungen eingehen zu können, arbeiten wir zur
Zeit an einer Online-Version des Reisebegleiters.
Ungeachtet dessen widmen wir uns im Homeoffice weiter dem
Programm des KulturSommers. Sobald Planungsicherheit besteht, möchten wir eine
Broschüre mit allen Terminen veröffentlichen.
Ausblick
Wir hoffen, dass Kunst, Kultur, Musik und Theater und die
damit verbundenen Begegnungen in nicht allzu ferner Zukunft wieder ein
Bestandteil unseres gemeinsamen Lebens sein werden.
Sollte der KulturSommer am Kanal 2020 als Kunst- und
Kulturfestival im seinem üblichen Zeitrahmen von vier Wochen nicht stattfinden
können, beginnen wir Ideen zu entwickeln, künstlerische Projekte des
KulturSommers in einer anderen Form und innerhalb eines anderen Zeitraumes zu
präsentieren.
Es grüßt herzlich ihr KulturSommer Team Frank Düwel und Farina Klose“
Im Internet kursieren die Videos von den Menschen in Italien. Sie stehen auf den Balkonen – und singen. Um sich Mut zu machen. Um für einen Moment die bedrückende Realität in Zeiten von Corvid-19 zu vergessen.
Kultur
trotz(t) Corona – das ist für mich die Botschaft, die dahintersteht. Kulturportal-Herzogtum.de
möchte sich daran ein Beispiel nehmen und weiterhin über die Kultur im Kreis
berichten. Schließlich hören die Musiker, Schauspieler, Filmemacher und Künstler
– Virus hin oder her – nicht auf, kreativ zu sein. Fragen kann man ja zum Glück
auch übers Telefon stellen und die Antworten – der Digitalisierung sei Dank –
lassen sich per Mausklick in die Öffentlichkeit bringen.
Seit heute (16. März) ist die Literaturwerkstatt das Thema der Woche. Das Gespräch mit HannaH Rau liegt schon ein paar Wochen zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Corona noch eine weitgehend chinesische Angelegenheit. So schnell ändern sich die Zeiten…
Auch die Leiterin der Literaturwerkstatt zeigt sich
angesichts des Virus trotzig. In einem Newsletter schreibt sie: „Wir brauchen jetzt
Geschichten. Wir sollten uns jetzt die Geschichten erzählen, die trösten und
gut tun, lesen, Filme gucken, schreiben. Wir arbeiten bereits daran, einen Teil
meines Seminarprogramms ins Internet zu verlegen, damit ich dort mit Euch bald
in Gruppen oder allein schreiben kann.
Falls Ihr jetzt beim Aufräumen Euren Roman in der Schublade findet und
überlegt, was Ihr damit machen könnt: Sprecht oder schreibt mich an.
Schreibcoaching klappt auch per Telefon und Mail. Warum das jetzt gerade auch
für mich als Künstlerin wichtig ist? Himmelshaken.“
Zum Trost und Trotz hat hat HannaH Rau ihrem Newsletter dieses Gedicht beigefügt:
Sie weiß den Sonnenstand frei Hand und sammelt Schrauben zu drehn den Himmel unters Dach mit leisem Klicken
Die meiste Zeit der Kunst ist Warten Die größte davon ist Warten Die Zeit ist die Kunst
Seit etwa anderthalb Jahren leitet Hannah Rau die Literaturwerkstatt der Stiftung Herzogtum Lauenburg. Im Stadthauptmannshof widmet sich die Begründerin der Lübecker Wortwerft alle vier Wochen den Schreibtalenten aus der Region. Bei den Jugendlichen punktet sie mit einer Fülle von Ideen und Anregungen und – natürlich – mit Fachkompetenz. Dabei bewegt sie sich stets auf Augenhöhe mit den Teilnehmern. Rau selbst verfasst Lyrik und Prosatexte. Kulturportal-Herzogtum.de sprach mit ihr über Schreibprozesse, die Bedeutung des Lesens und Coaching.
Kulturportal-Herzogtum.de: Frau Rau, wie wichtig ist es, zu lesen, wenn man schreiben will?
Hannah Rau: Wenn man schreiben möchte, ist es schon gut, auch zu lesen. Wenn man schreibt, liest man anders. So wie jemand, der Häuser baut – der guckt sich Häuser einfach anders an, wenn er sie betritt.
KP: Kennen Sie einen berühmten Autor, der nicht gelesen hat?
Rau: Es gibt da ein Zitat: „Das Bisschen, was ich noch lese, schreibe ich mir selber“ – war es Sartre? Das ist natürlich ein Kokettieren. Ich glaube, Ideen und Stile entwickeln wir durch unsere Vorbilder. Wenn jemand zu mir kommt, der einen Lyrikband veröffentlichen will, dann frage ich: Wie viel Lyrik hast du im Regal? Wenn da keine Lyrik steht, sage ich, dann lass das mal mit dem Lyrik-Schreiben. Wir sollten niemals etwas schreiben, was wir nicht auch selbst lesen wollen.
KP: Wie ist es bei Ihnen? Was lesen Sie?
Rau: Gerade lese ich von Mirko Bonné „Der eiskalte Himmel“ – ein älteres Buch von ihm über Shackletons Antarktisdurchquerung. Mich begeistern Extremgeschichten. Oder Peter Wittkamps grandioses Buch über Zwangsstörungen „Für mich soll es Neurosen regnen“. Ich lese viel und oft Lyrik, Belletristik und Sachbuch gleichzeitig. Ein Gedichtband liegt immer in der Küche oder am Bett. Auf dem Kindle habe ich viel Belletristik, weil ich nicht gerne Sachen mit mir herumschleppe. Ich muss lesen, wie ich essen muss. Das Gedicht ist meine Praline. Prosa ist mein Butterbrot.
KP: Holen Sie sich aus dieser Lektüre Inspirationen fürs Schreiben?
Rau: Nein eigentlich nicht. Meine Ideen kommen aus dem Alltag. Ich stehe immer so unter Beschuss von meinen Eindrücken. Dadurch bekomme ich ganz viele Impulse. Freunde sagen manchmal zu mir: Du erlebst aber auch verrückte Sachen! Dabei geht es wahrscheinlich allen Menschen so, die meisten merken es nur nicht. Ich bin unglaublich assoziativ unterwegs. Ich sitze mit einem komischen Typ im Bus und schon entsteht eine Geschichte.
KP: Was drängt Sie an den Schreibtisch? Sind es diese Inspirationen?
Rau: Das ist keine Frage für mich. Ich schreibe und es schreibt mich. Es gibt für mich kein Leben ohne Schreiben. Wenn ich anfange zu schreiben – wenn ich fiktional schreibe, bin ich komplett weg. Das ist der klassische Flow. Ich muss schreiben, sonst platze ich. Schreiben beruhigt. Es strukturiert. Es ist Ausdruck, aber still. Es ist im Grunde meine Impulskontrolle, eine ausgelagerte Impulskontrolle.
KP: Sie schreiben auch Lyrik. – Bei Verlagen gilt diese Textform in finanzieller Hinsicht als tödlich – warum?
Rau: Die Lyrik hat eine große Nähe zur bildenden Kunst. Sie hat nichts Konkretes. Es gibt Dinge, die kannst du nicht benennen, weil sie unbenennbar sind, aber Lyrik kann es. Abstrakte Kunst kann es. Und das ist der Reiz. Ich schreibe aber auch Prosa. Gerade habe ich einen Roman in mir. Ich bin noch auf der Suche, wie ich das machen kann. Weil ich mich beim Schreiben verausgabe, brauche ich Zeit und eine klare Struktur. Der Roman ist aber schon da. Es schreibt in mir.
KP: Wie meinen Sie das – der Roman ist schon da?
Rau: Ich weiß ungefähr, was für Figuren ich habe und lasse sie machen. Ich weiß nicht, wo es hingeht. Ich schreibe einfach nur mit, was in meinem Gehirn passiert.
KP: Schriftsteller genießen den Ruf des weltabgewandten Eigenbrötlers. Sie hingegen sitzen nicht nur in Ihrem stillen Kämmerlein, sondern suchen auch das Rampenlicht – zum Beispiel bei Poetry Slams.
Rau: Auf Slams gehe ich nur noch, wenn ich eingeladen werde. Was ich mache, nennt sich Slam-Recording. Ich gehe auf Konferenzen und schreibe alles mit, was ich höre – was an Vorträgen kommt, was die Menschen neben mir in der Sitzreihe augenrollend sagen. Am Ende gehe ich auf die Bühne und fasse die Inhalte der Tagung in 15 Minuten zusammen Ich beleuchte alles anders, verrückt, höre anders zu. Wenn zum Beispiel die Suchtbeauftragte gesagt hat, das Thema Sucht muss endlich in der Gesellschaft als Krankheit wahrgenommen werden wie Hämorriden und niemand traut sich zu lachen, dann komme ich später auf die Bühne und frage: „Na, wie geht’s euren Hämorriden?“ und endlich dürfen alle lachen. Ich bin da der Narr.
KP: Im Rampenlicht stehen Sie auch, wenn Sie eine Literaturwerkstatt – wie die der Stiftung Herzogtum Lauenburg – leiten…
Rau: Nein – bei der Literaturwerkstatt bin ich nur die Leitung. Es geht da nicht um mich. Es geht darum, Teilnehmern Impulse zu geben und Freude am Schreiben zu wecken. Ich sage, stell´ dir vor, du könntest fliegen. Stell´ dir vor, du könntest eine App entwickeln, mit der du andere Menschen steuern kannst. Was würdest du tun? Die Schreibbegeisterung zu wecken, heißt für mich da anzudocken, wo die Teilnehmer sich befinden.
KP: Welche Fähigkeit braucht es noch, um eine Literaturwerkstatt zu leiten?
Rau: Wirkliche Leitung sein, heißt, zu gucken, dass jeder bekommt, was er oder sie braucht. Es gilt neben den Quirligen auch die Stillen zu beachten – ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. Man muss Regeln einfordern – zum Beispiel Respekt und freundliche Rückmeldungen fördern. In Mölln war das von Anfang an keine Frage. Für schwierige Situationen habe ich die Poesietherapie als Zusatzausbildung gemacht. Ich habe als Teilnehmerin selbst erlebt, wie eine alte Frau bei einer Schreibaufgabe weinend den Raum verlassen hat, ohne dass die Leitung reagiert hat.. Das wollte ich nicht erleben. Die Therapieausbildung brauche ich allerdings meist fürs Autorencoaching.
KP: Wie gehen Sie mit Ihrer Schreibwerkstatt vor?
Rau: Ich gucke, was die Gruppe braucht und gehe auf das ein, was sie sich wünscht und danach organisiere ich meinen Unterricht.
KP: Macht es einen Unterschied, ob Sie beispielsweise mit Alt oder Jung oder gemischten Gruppen arbeiten?
Rau: Das ist vollkommen egal. Es spielt weder eine Rolle, welche Altersmischung ich habe, noch ob es Männer oder Frauen sind, weil wir alle schreiben. Ich verzichte gern auf Vorstellungsrunden. Ich möchte nicht, dass Karl-Heinz aus der Verwaltung sich als Karl-Heinz aus der Verwaltung vorstellt. Ich möchte, dass Karl-Heinz sich mit seinem verrückten Text über ein Nashorn vorstellt.
Landauf, landab bemüht sich die Politik, den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise entgegenzuwirken. Dabei stehen auch die Künstler und Kulturschaffenden im Fokus. So hat das Land Schleswig-Holstein ein Soforthilfeprogramm auf den Weg gebracht, das zeitnahe und unbürokratische Hilfen für Freiberufler, Selbständige, Kulturschaffende und Unternehmen ermöglicht. Die von der Landeregierung als Schutzschirm bezeichnete finanzielle Unterstützung beläuft sich auf 100 Millionen Euro.
An
der Umsetzung des Hilfsprogramms wird derzeit gearbeitet. Wirtschaftsminister
Bernd Buchholz (FDP) hofft, dass noch in dieser Woche Anträge gestellt werden können.
„Sobald
dies der Fall ist, werden das Land und die Förderinstitute darüber öffentlich
informieren. Wir bitten darum dringend, vorher noch keine Anfragen zu stellen“,
so Buchholz.
Speziell
um Hilfe für Künstler und Freischaffende bemüht sich der
Landeskulturverband Schleswig-Holstein (LKV). Unter #KulturhilfeSH hat der LKV einen
Nothilfefonds für Künstler und Freischaffende der Kulturwirtschaft ins Leben
gerufen. Bis zum vergangenen Freitag (20. März) waren dort bereits 45.000 Euro
eingegangen. Das eigens dafür eingerichtete Konto hat die IBAN DE51 2145 0000
0105 0396 71 (BIC: NOLADE21RDB). Das Stichwort lautet „Kulturhilfe“. Spenden
werden zudem via Paypal unter www.paypal.me/kulturhilfeSH
entgegengenommen.
Der Mann ist ein – zeitloser – Superstar, ein Magier, ein Joker, ein Monument. Wie kaum ein zweiter hat William Shakespeare in menschliche Abgründe geschaut und sie in seinen Figuren verewigt. Wer´s nicht glaubt, hat beim Kanu-Wander-Theater Gelegenheit, sich davon zu überzeugen. Auf dem Spielplan steht 2020 Shakespeares „Was ihr wollt“.
Michelle Affolter hat sich für diese Komödie entschieden. Sie
führt beim Kanu-Wander-Theater erstmals Regie. Die handfesten Gründe, die für die
Shakespeare-Inszenierung sprechen, kann sie vermutlich im Schlaf runterbeten.
Doch bei Affolter kommt noch etwas anderes hinzu: Aus ihr spricht die pure Begeisterung
für den Dramatiker, die Freude, sich seines Stoffes anzunehmen und ihn in die
heutige Zeit zu übersetzen.
Die Begeisterung ist so authentisch, dass sie im Grunde sagen kann, was sie will. Etwa den Satz: „Ich bin wahnsinnig verliebt in Shakespeare.“ Bei manch anderem klingt so ein Satz einfach nur aufgesetzt. Bei Affolter denkt der Zuhörer: Verdammt – vielleicht sollte ich mal (wieder) einen Shakespeare zur Hand nehmen!
Das Stück „Was ihr wollt“ fasziniert die junge Regisseurin vor
allem wegen der Erwartungshaltung, die sich durch das Stück zieht. Eine Art
Wasserzeichen, das Affolter mit dem Imperativ „Es muss etwas passieren“ umschreibt.
Unter diesem Blickwinkel erscheint es geradezu logisch, dass sie das Stück als
Silvestersause inszeniert.
Für den Zuschauer bedeutet diese Spielauffassung vor allem
eines: Spannung! Was wird sich da im Laufe der Handlung entladen? Wie gehen die
Liebesgeschichten um Olivia, Orsino und Cesario aus? Wie löst die Regisseurin
das Geflecht aus Intrigen und Verwechslungen auf. Gibt der Ausgang Anlass zur
Hoffnung oder bleibt ein bitterer Nachgeschmack?
So ganz sicher ist sich Affolter da – noch – nicht.
Shakespeare – der Superstar, Magier, Joker, das Monument – hat ihr mit seiner
offenen Dramaturgie Spielraum für einen Dreh am Ende des Stücks eröffnet. Auf
dem Ausgang wird sie noch eine Weile herumkauen.
„Was ihr wollt“, Kanu-Wander-Theater, KulturSommer am Kanal, 12. & 13. Juni, ab Schmilauer Brücke, Schaalseekanal, Freitag ab 15 Uhr, Sonnabend ab 11 Uhr
Hanne Lenze-Lauch muss das Große und Ganze im Blick haben. Auf Details zu achten, sagt sie, bringe relativ wenig. Die junge Frau weiß, wovon sie spricht. 2019 war sie erstmals bei dieser sehr speziellen Produktion dabei. Sie kennt das Gelände am Schaalseekanal – die Bühne des Kanu-Wander-Theaters. Sie ist theoretisch wie praktisch in der Lage, die besonderen Umstände der Aufführungen in ihre Ideenwelten miteinzubeziehen.
Zwei Dinge nennt sie, auf die es für die Produktion
ankommt: Die Kleider müssen für das Publikum, das sich mit dem Kanu von Szene
zu Szene vorarbeitet, gut sichtbar sein. „Eine Signalwirkung haben“, wie die
Kostümbildnerin es ausdrückt. Und: Für die Helden des Stücks, die an den
verschiedenen Stationen von verschiedenen Darstellern gespielt werden, müsse
man sich etwas einfallen lassen, dass einen „Wiedererkennungswert“ habe.
Die aktuelle Produktion – 2020 steht William Shakespeares
„Was ihr wollt“ auf dem Spielplan – dürfte für die erfahrene Kostümbildnerin* in
dieser Hinsicht ein Klacks sein. Viola, Orsino und Co. sollen mit ihrer Kluft im
modetechnisch schillernden und schrägen Zeitalter von Boy George, Nena und Co. landen.
„Ich finde, dass in den 80er Jahren viel aus Shakespeares
Zeiten drinsteckt“, begründet Lenze-Lauch den Schritt, sich dem Neobarock
zuzuwenden. Vom Grundschnitt, stellt sie klar, hätte auch der große Dramatiker des
16. Jahrhunderts solche Kleider tragen können.
Die schrillen Textilien haben natürlich auch einen
dramaturgischen Hintergrund: Regisseurin Michelle Affolter inszeniert das Stück
als berauschende Silvestersause. Dementsprechend „überschäumend“ sollen die
Kleider sein. Zudem unterstreichen sie das Melodramatische der Shakespearschen
Verwechslungskomödie.
Affolter – 2019 noch Regieassistentin – führt nach dem
Fortgang von Kerstin Steeb erstmals Regie. Affolters alte Rolle füllt nun Lisa
Pottstock aus. Geblieben sind der Spaß und die gute Stimmung im Team, was Lenz-Lauch
sehr wichtig ist. „Der Humor ist die Basis von allem“, stellt sie fest. Wichtig
sei aber auch, dass man ähnliche ästhetische Vorstellungen habe.
Diese Vorstellungen müssen jetzt, da die heiße Vorbereitungsphase für die Produktion beginnt, nach und nach endgültig Gestalt annehmen. Die Frauen werden deshalb in den kommenden Wochen immer mal wieder die Köpfe zusammenstecken, um zu entscheiden, wie die Charaktere am Ende optimal angezogen sind. Dabei werden sie darauf achten, dass die Kostüme für die Darsteller auch praktikabel sind – und nicht zum Klotz am Bein mutieren. Das vorauszusehen, sei nicht immer einfach, sagt Lenze-Lauch. Abgesehen davon kann sie sich auf eine gewisse „Leidensfähigkeit“ der Darsteller verlassen. Beim letzten Mal, sagt die Kostümbildnerin hätten einige einen Wollpullover tragen müssen – mitten im Sommer!
*Hanne Lenze-Lauch entwirft seit 2007 Kostüme für Theateraufführungen. Grundlage ihrer Arbeit ist der äußerst praktisch orientierte Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, den die geborene Aumühlerin in Hildesheim absolviert hat.
„Was ihr wollt“ , Kanu-Wander-Theater, KulturSommer am Kanal, 12. & 13. Juni, ab Schmilauer Brücke, Schaalseekanal, Freitag ab 15 Uhr, Sonnabend ab 11 Uhr
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