Am 24. November ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr. Traditionell ist es der Tag, an dem an die Verstorbenen erinnert wird – der Totensonntag*. Kulturportal-Herzogtum.de hat dies zum Anlass genommen, um sich mit der Möllner Pastorin Hilke Lage über den Tod, die Toten und das Sterben zu unterhalten. Die Seelsorgerin hatte Ende August zur 4. Auflage der „Langen Nacht des Friedhofs“ eingeladen.
Kulturportal-Herzogtum.de: Frau
Lage, als Pastorin haben Sie von Berufs wegen mit Tod und Sterben zu tun. Muss
man dafür ein besonderer Mensch sein?
Hilke Lage: Ich finde nicht. Man
muss empathisch und offen sein für das, was einem an Gefühlen entgegenkommt.
Dafür brauche ich erst einmal nicht qualifiziert sein. Das sind menschliche
Kernkompetenzen.
KP: Sagen Sie. Viele Menschen
entwickeln Berührungsängste, wenn sie mitbekommen, bei dem oder der ist jemand
gestorben und trauert. Weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen
sollen…
Lage: Das stimmt. Menschen haben
Angst, etwas Falsches zu sagen. Oder gar keine Worte zu finden und ziehen sich
dann von den Trauernden zurück. Dabei hilft es schon, wenn man sagt: Ich weiß
gar nicht, was ich sagen soll. Manchmal ist die Situation so schlimm, dass man
ohnehin nicht trösten kann. Da kann man nur zeigen: Du bist nicht allein. Ich
halte mit dir aus. Das ist auch der Grund, warum ich Pastorin geworden bin. Ich
glaube, auch Gott hält mit uns aus.
KP: Das hört sich an, als hätte
der Tod in Ihrem Leben schon immer eine besondere Rolle gespielt…
Lage: Er hat mich schon immer
fasziniert. Als Jugendliche habe ich mich gefragt, was kommt danach. Ich habe
Kübler-Ross‘** Interviews mit Sterbenden gelesen und ich war fasziniert von den
Gemälden des Hieronymus Bosch, in denen die Verstorbenen von den Engeln ins
Licht geführt werden.
KP: Mit diesem Interesse bewegen
Sie sich nicht gerade im Mainstream. Was meinen Sie: Wird der Tod von der
modernen Gesellschaft ausgegrenzt?
Lage: Ich nehme wahr, dass der Tod
in Filmen eine größere Rolle spielt als früher, aber im Alltag weniger
vorkommt.
KP: Woran machen Sie das fest?
Lage: Früher wurde ich zum Beispiel
häufiger zu einer Aussegnung gerufen, bevor der Bestatter den Verstorbenen
abholte. Das kommt heute nur noch selten vor.Es ist schade, dass diese
Kultur des gemeinsamen Abschiednehmens verschwindet. Ich beobachte das auch auf
dem Friedhof, wenn der Trauerzug von der Kapelle zum Grab geht. Früher haben
Leute, die gerade die Gräber ihrer Angehörigen pflegen, dann kurz innegehalten.
Heute arbeiten sie einfach weiter.
KP: Haben Sie eine Erklärung
dafür?
Lage: Mit jedem Tod wird man daran
erinnert, dass man sterblich ist. Es ist menschlich, das verdrängen zu wollen.
KP: Sind die Unterschiede
zwischen Vergangenheit und Gegenwart wirklich so groß? Oder gehört die These
von der zunehmenden Verdrängung womöglich ins Reich der Legenden verbannt?
Lage: Früher hatten die Menschen
zumindest mehr Kontakt mit Toten. Die Verstorbenen wurden von der Familie
gewaschen. Das gibt es kaum noch. Die Menschen sind schneller und meist zuhause
gestorben, weil die medizinische Versorgung eine andere war. Die
Müttersterblichkeit und die Kindersterblichkeit waren höher.
KP: Als Pastorin haben Sie
zwangsläufig – etwa durch den Konfirmandenunterricht – auch mit jungen Menschen
zu tun. Wie gehen die mit dem Thema um?
Lage: Ich erlebe da ein
gleichbleibend großes Interesse. Seit einigen Jahren gehen wir mit den
Konfirmanden zu einem Bestatter. Da kommen dann alle möglichen Fragen,
beispielsweise wie tief der Verstorbene in der Erde liegt und was der Bestatter
mit den Verstorbenen macht. Der Bestatter erzählt ihnen dann, dass die Toten
gewaschen und die Körperöffnungen verschlossen werden. Ich bin davon überzeugt,
dass die Beschäftigung mit diesen Fragen den Jugendlichen etwas Sicherheit
gibt, wenn sie selbst mit dem Tod eines Menschen konfrontiert sind – auch wenn
der Tod meist schrecklich bleibt.
KP: Losgelöst von Ihrem
Unterricht – bedürfte es nicht ganz allgemein eines anderen, offensiveren
Umgangs mit dem Thema – um Berührungsängste abzubauen, aber auch um eine
gewisse Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten?
Lage: Ich persönlich sehe es nicht
als meine Aufgabe an, einen Kulturwandel herbeizuführen. Ich sehe meine Aufgabe
darin, Räume zu schaffen, um sich Tod und Trauer nähern zu können. Unsere
‚Lange Nacht des Friedhofs‘*** ist ein gutes Beispiel dafür – es ist ein
niedrigschwelliges Angebot, mit dem wir offenbar einen Nerv getroffen haben.
Beim letzten Mal hatten wir 500 Besucher, die sich Lieder und Lesungen überAbschied,
Sehnsucht, Trauer und Hoffnung angehört und die anrührende Atmosphäre genossen
haben. Es war schön zu beobachten, wie Gäste mit einem Weinglas in der Hand zu
den Gräbern ihrer Angehörigen und danach zum nächsten Künstler gegangen sind. Die
Verstorbenen waren plötzlich Teil des Lebens. Das zeigt mir: Die Sehnsucht,
sich mit dem Tod zu beschäftigen, ist da. Meine Aufgabe als Pastorin ist es,
Räume dafür zu öffnen, in denen dann auch die Hoffnung aufscheint, dass
Gott das Leben weiterbegleitet. Das gilt für die, die wir verloren haben und
auch für uns selbst.
KP: Frau Lage, ich danke Ihnen
für das spannende Gespräch.
*Die Einführung des Totensonntags geht nicht etwa auf die
evangelisch-lutherische Kirche, sondern auf Friedrich Wilhelm III. von Preußen
zurück. Die Anordnung erfolgte am 24. April 1816
**Elisabeth Kübler-Ross, schweizerisch-amerikanische
Psychologin
***Die „Lange Nacht des Friedhofs“ findet alle drei Jahre
auf dem Möllner Friedhof in der Hindenburgstraße statt. Zuletzt hatte die
Kirchengemeinde am 30. August 2019 eingeladen.