Unter
dem Motto „Wanted: Junge Autor*inn*en“ beteiligten sich 2019 zahlreiche Kinder
und Jugendliche am von der Stiftung Herzogtum Lauenburg ins Leben gerufenen
Schreibwettbewerb. Bereits im April wurden die besten Beiträge ausgezeichnet.
Insgesamt sieben Preisträger gab es in den Alterskategorien der Sechs- bis
Elfjährigen, der Zwölf- bis 16-Jährigen und der 17- bis 23-Jährigen. Die
Gewinnertexte können Sie auf Kulturportal-Herzogtum.de lesen. Nach Magdalena
Franz‘ Geschichte „Die alte Schreibmaschine“, Maya Fausts „Herbstzauber“, Zoe
Schreblowskis „Helenas Reise nach Atenia“, Thies Paaps Prosatext „Das Eis“ und Anna
Franziska Stielers „Gedanken zum Sterben“ folgt nun Jette Hübners Geschichte
über „Die Sims 3 D“.
Die
Sims 3 D
„Die
Spielart ist dieselbe wie bei Sims 3“, erklärte mir Samuel. „Du erstellst einen
Charakter und kannst ihn Aktionen ausführen lassen. Allerdings bist du
sozusagen selbst der Charakter, weil …“ Ich unterbrach ihn: „Ich bin dann
also richtig im Spiel?“ Samuel hob seine Hände ein wenig an. „Ich weiß, das ist
cool.“ Ich blickte ihn an und zog eine Augenbraue hoch. Er grinste. „Also …
ja, du bist dann im Spiel, aber du kannst immer wieder zurück.“ Er holte eine
schwarz-weiße Brille hervor, die ein wenig so aussah wie diese
Virtual-Reality-Brillen. „Solange das dann auch funktioniert“, zweifelte ich.
„Das funktioniert schon“, sagte Samuel.
„Fangen
wir an“, meinte er. Sogleich öffnete sich das Menü und wir erstellten meinen Charakter.
Vorname: Aileen. Nachname: Lorcen. Alter: Teenager. Ich wandte mich an Samuel
und fragte verwundert: „Muss ich noch jemanden dazu erstellen?“ Er sah mich mit
einem besserwisserischen Blick an. „Nein, du musst nur dich erstellen, die
Brille leitet deine Erinnerungen an das Spiel weiter. Sie erstellen dann die
Personen aus deinem Leben als NSC und …“ Ich fiel ihm ins Wort: „NSC? Was ist
das denn?“ Er blickte mich verständnislos an, schüttelte den Kopf und sagte
dann: „Du lebst wirklich hinterm Mond, was Videospiele angeht, oder? NSC heißt
NICHT SPIELER-CHARAKTER. Das sind Charaktere, die vom Spiel kommen, die du
nicht spielen oder kontrollieren kannst, mit denen du allerdings interagieren must.“
„Zum Glück ist das gar nicht gruselig“, sagte ich ironisch.
„Dann
kann es ja losgehen“, sagte Samuel, nachdem wir fertig waren. „Wir müssen die Brille
aufsetzen und auf den roten Knopf drücken.“ „Und wie kommen wir wieder raus?“,
fragte ich zögerlich. „Keine Ahnung, ich glaube, man denkt einfach, dass man wieder
raus will“, antwortete Samuel. Er setzte die Brille auf, drückte auf den Knopf
und war im nächsten Moment verschwunden. Ich blickte verstört auf die Brille,
die zurückgeblieben war. Fassungslos starrte ich auf den Bildschirm. Da war
unsere Stadt, und da war auch Samuel. Er winkte mir zu. Mir war mulmig, aber ich
konnte ihn ja kaum alleine da drinnen lassen. Zögernd hob ich die Brille auf. Als
ich auf den Knopf drückte, fühlte es sich so an, als ob Tausende Leute an mir
zerrten. Auf einmal war es vorbei und ich stand vor Samuels Haus. Es war überhaupt
nicht verpixelt und sah auch nicht animiert aus. Es war so real, als wäre ich
gar nicht aus meinem Leben weg. Samuel sah selbst hier im Spiel sehr gut aus. Nachdem
wir uns eine Zeit lang in der virtuellen Welt umgesehen hatten, sagte ich:
„Okay, ich will zurück.“ Samuel nickte. „Drück einfach auf den Knopf hinter
deinem Ohr“, sagte er. Das tat ich, aber es veränderte sich nichts. Samuel sah
mich stirnrunzelnd an. Ich versuchte es noch mal, doch wieder nichts. Ich wurde
panisch. Auch Samuel probierte es, aber auch er verschwand nicht. „Wir kommen
nicht aus dem Spiel raus!“, schrie ich angsterfüllt. „Das ist nicht lustig, Samuel!“
Samuel
wurde ganz blass. „Es tut mir leid“, sagte er stockend, „aber ich finde einen
Weg, wie wir wieder rauskommen.“ Ich ließ mich auf den Boden sinken und heulte.
Samuel hockte sich neben mich und nahm mich in den Arm. Wir waren im Spiel
gefangen und kamen hier auch nicht weg! „Ich … ich glaube, ich möchte erst
mal zu mir nach Hause“, stotterte ich. Samuel nickte. Ich wohnte in der realen
Welt nur zwanzig Minuten von ihm entfernt. Auf einmal stand ich vor unserem
Haus – natürlich war es nicht unser Haus, aber es wirkte total echt! Ich trat
an die Eingangstür und stockte. Auf dem Klingelschild stand „Familie White“.
Aber das konnte nicht sein: Als meine Eltern sich trennten, hatte meine Mum
ihren Mädchennamen wieder angenommen. Deswegen sollte da eigentlich „Familie
Lorcen“ stehen. Zögerlich klingelte ich. Meine Mutter öffnete. „Hallo, Schatz, was
machst du denn schon hier?“, flötete sie. „Aber schön, dass du früher da bist.
Da können wir zusammen essen, Papa kommt auch gleich.“ „Dad kommt nach Hause?“,
murmelte ich. Meine Mutter musterte mich besorgt. „Ist alles in Ordnung mit
dir, Mäuschen?“, fragte sie und streichelte mir sanft über die Wange. „Ich hab
nur ein wenig Kopfschmerzen“, sagte ich und lief schnurstracks in mein Zimmer.
„Schatz, kommst du essen“, rief meine Mutter nach einer Weile. Als ich im
Türrahmen zum Esszimmer stand, stockte mir der Atem. Mein Dad saß am Tisch und
lächelte mich an. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich blinzelte sie
weg.
Auf
einmal generierte das Spiel sich neu, meine Eltern verschwanden – und plötzlich
stand da ich selbst, besser gesagt, ein Mädchen, das aussah wie ich. Sie hatte
mir den Rücken zugekehrt. Ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht
laut aufzuschreien. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Jetzt ist es aus!,
dachte ich. Doch das Mädchen bemerkte mich nicht. Langsam schlich ich zur
Hintertür und stahl mich raus in den Garten. Als ich die Tür sanft hinter mir schloss
und mich umdrehte, erschrak ich.
Vor
mir stand Samuel – mit einem fiesen Grinsen im Gesicht. Ich hatte ein ungutes
Gefühl. Auf einmal fasste er mit der Hand in meine Haare und zwang mich damit
zu Boden. Sein Griff war fest, es tat höllisch weh. Wie sehr ich ihn in diesem
Moment verteufelte! Das hier war genauso weit von dem normalen Sims-Spiel entfernt
wie der Nordpol vom Südpol! „Du gehörst hier nicht her!“, schrie Samuel
wutentbrannt. „Du störst den Code!“ Er holte mit der freien Hand aus. Ich
machte mich auf den Schmerz gefasst, doch nichts geschah. Der Junge löste sich in Einsen und Nullen
auf.
Ich
blickte entgeistert auf meinen Retter. Vor mir stand der echte Samuel und
atmete heftig. Trotzdem krabbelte ich von ihm weg. „Ich tu dir nichts, das eben
war ich nicht“, sagte er behutsam. Er zog mich hoch und nahm mich in die Arme. „Ich
weiß“, sagte ich leise und ließ meinen Kopf an seine Schulter sinken. „Unsere
virtuellen Ichs wollen uns ausschalten“, sagte Samuel. „Ich befürchte, das
Spiel kann diese Charaktere immer wieder neu erstellen, weil es unmittelbaren
Zugriff auf den Code hat.“ Ich sah ihn mit aufgerissenen Augen an. „Wenn ich
mich in den Code hacken kann, dann könnte ich nicht nur die NSC beseitigen,
sondern uns vielleicht auch aus dem Spiel rausholen.“ Er schaute mich
aufmunternd an. Ich nickte nachdenklich.
Wir
liefen zu Samuel nach Hause, seinem Zuhause im Spiel. Samuel setzte sich an den
Rechner und tippte. „Ich bin wieder relativ zuversichtlich“, sagte er nach
einer Weile. „Ich hab unsere bösen Doppelgänger erst mal lahmgelegt.“ Er fuhr
sich über die Stirn. „Aber während ich versucht hab, das System zu hacken, hat
es sich verändert, damit ich nicht reinkomme. Egal was ich gemacht habe, das
System war kurze Zeit später dagegen immun.“ Das gefiel mir nicht, ganz und gar
nicht. Weil ich nichts sagte, fügte Samuel hinzu: „Das bedeutet, dass das
Programm eine KI ist, eine Künstliche Intelligenz. Wer auch immer dieses Spiel
entwickelt hat, muss unglaublich schlau sein. So eine ausgereifte KI zu
entwickeln dauert garantiert Jahre.“
Ich
starrte ihn ungläubig an und war den Tränen nahe. „Es bedeutet, dass es sein
kann, dass das Spielsystem die NSC wieder neu programmiert“, erklärte Samuel
weiter. „Und danach sind sie garantiert nicht mehr so freundlich wie zuvor.“ Freundlich?,
dachte ich. „Könnte es nicht doch eine Lücke im System geben, so eine Art Notausgang?“,
fragte ich. „Und wo soll der sein?“, fragte Samuel zurück. Dann schaltete sich
der Computer mit einem großen Knall ab.
Wir
hockten noch eine ganze Weile stumm da. „Weinst du?“, fragte Samuel und legte
mir eine Hand auf die Schulter. Ich schüttelte den Kopf und wischte mir die
Tränen aus den Augen.
„Mit
was könnte man sich hier rausbeamen?“, fragte ich, mehr mich selbst als Samuel.
Ich bekam trotzdem eine Antwort, und sie brachte mich aus dem Konzept. „Kennst
du den Film E.T., der Außerirdische?“ „Ja klar“, sagte ich. Samuel deutete auf
das Telefon. „Nach Hause telefonieren“, sagte er. „Meinst du, das klappt?“,
fragte ich skeptisch. „Wäre das nicht zu offensichtlich?“ Er zuckte mit den
Schultern und nahm den Hörer ab. „Die Leitung ist tot“, stellte er enttäuscht fest.
„Wir sind auch nicht in der echten Welt, die brauchen hier keine Telefone“, stellte
ich fest.
Plötzlich
hörten wir, wie unten die Eingangstür geöffnet wurde. „Shit“, flüsterte ich,
„das war´s wohl, da kommen die NSC.“ Ich hielt den Atem an. Schritte tappten
durch den Flur. Da fiel mein Blick auf Samuels Bücherregal. Ich kannte alle
seine Bücher in- und auswendig. Aber da stand eines, das ich noch nie gesehen
hatte. Ich zog es heraus. Auf dem Buchdeckel stand „Anleitung“ und
darunter war das Sims-Logo abgebildet.
„Samuel,
schau mal!“, flüsterte ich. Die Schritte waren jetzt auf der Treppe zu hören.
Samuel hatte einen Stuhl unter die Türklinke geklemmt. „Was ist? Hast du was
gefunden?“, fragte er. Als Antwort hielt ich ihm das Buch entgegen. Er nahm es
in die Hand und öffnete es. Es war faszinierend, die Buchstaben im Buch
verschwammen und wurden zu Zahlen. „Der Code“, sagte ich gedämpft. „Was?“,
fragte Samuel. „Na siehst du das nicht? Das ist der Code des Spiels, der
Lebenssaft des Systems sozusagen!“ Ich nahm ihm das Buch wieder ab. „Du klingst
wie unser Informatiklehrer“, bemerkte Samuel. Ich ignorierte ihn. Jemand
rüttelte heftig an der Türklinke.
„Wir
müssen das Buch zerstören“, sagte ich hastig. „Was hast du gesagt?“, fragte
Samuel mit ungläubigem Blick. „Und wie kommen wir dann wieder zurück?“ Draußen
hämmerte es jetzt wild gegen die Tür. Ich blickte Samuel fest in die Augen.
„Hör zu, wenn wir es nicht zerstören, kriegen es vielleicht noch andere in die
Hände, und mit denen passiert dann das Gleiche.“ Samuel setzte an zu reden,
brach dann aber ab. „Wir zerstören nur so viel, dass wir noch rauskönnen“, sagte
ich. „Also alles bis auf die letzte Seite. Das ist das Ende unserer Geschichte.“
Der Stuhl vor der Tür fiel polternd um.
Auf
einmal griff Samuel nach meiner Hand und steckte sie ins Buch. Wir wurden
hineingesogen in einen Strudel aus Einsen und Nullen und landeten hart auf dem Fußboden
– in Samuels Zimmer, in der wirklichen Welt.