Unter dem Motto „Wanted: Junge Autor*inn*en“ beteiligten sich 2018 und 2019 zahlreiche Kinder und Jugendliche am von der Stiftung Herzogtum Lauenburg ins Leben gerufenen Schreibwettbewerb. Die Gewinnertexte wie Anna Franziska Stielers „Gedanken zum Sterben“ sind jetzt unter diesem Titel in einem Buch erschienen, das ab sofort bei der Stiftung Herzogtum Lauenburg und in einigen Buchhandlungen der Region erhältlich ist. Zudem kann „Wanted Junge Autor*inn*en“ beim Osburg Verlag nachbestellt werden.
Gedanken
zum Sterben
Jedes Mal, wenn ich in Büchern einen Satz lese wie „Meine
Eltern sind tot“, kommt es mir für einen kurzen Moment so vor, als gäbe es
diesen Tod nur in Büchern, als würde er zwischen den Buchdeckeln stecken
bleiben. Dann könnte man, genauso wie man zwischen Krimi, Roman und Science
Fiction unterscheidet, solche Themen in die Kategorie „reale science fiction“
einordnen, den Darsteller bemitleiden, müsste aber nie darüber nachdenken, dass
es jeden von uns treffen kann, immer und überall. Weil man sich nicht
vorstellen möchte, dass der Tod zum Leben gehört. Weil man denkt, man sei abgesichert.
So vieles kann man heutzutage berechnen, kontrollieren, vorhersehen. Aber das
Leben und den Tod nicht. Es gibt keine Gewissheit, die dir zusichert „Dein
Leben liegt noch vor dir“. Das Leben ist eine Formel: X, unbekannt.
Ich erinnere mich gut an den ersten Tod, der mir in Gestalt
unseres Nachbarn begegnete. Er war alt und krank und ich war noch klein. Jedes
Mal, wenn ich im Garten war, damals trug ich täglich einen Haarreif, lachte er
herüber und sagte: „Was du für eine schöne Blume im Haar hast.“ An einem
Wochenende im Frühling ist er gestorben. Ich war zum Fenster gegangen, hatte in
den strahlenden Himmel geschaut und gedacht: „Jetzt bist du im Himmel.“
Natürlich war ich traurig, aber es war tröstlich, dass er ein langes Leben
gehabt hat. Ich hatte das Gefühl, dass er immer noch vom Himmel auf die kleine
lila Blume in meinem Haar lächelte. Er hatte gewusst, dass er sterben würde und
ich ging davon aus, dass er es gewollt hatte. Er war doch alt, alles war doch
in Ordnung. Ich dachte, dass er gut aufgehoben war. Viel später erst erfuhr
ich, wie schwer es ihm fiel, zu sterben, wie gerne er noch geblieben wäre.
Ich war deutlich älter, als ich vom Tod einer weiteren
Person erfuhr, auch wenn ich sie nie gesehen hatte: Der Vater einer
Mitschülerin. Es war eine Mathestunde und die ganze Klasse saß müde und
gelangweilt auf die Tafel starrend im Klassenraum, als es an die Tür klopfte
und unsere Klassenlehrerin eintrat. Ich weiß noch, wie ich hoffte, dass
irgendetwas Abwechslungsreiches passiert sei. Die Lehrerin begann dann ziemlich
schnell zu reden, bemüht nach den richtigen Worten suchend. Dann machte sie
eine Pause, während die ganze Klasse sie mit großen Augen anstarrte. „Der Vater
eurer Mitschülerin ist gestorben“, sagte sie dann. Das war ein Moment, an dem
es mir vorkam, als habe die ganze Welt sich verändert und ich hätte es nicht
mitbekommen. Dieser Tod war nicht in Ordnung. Was war wohl das letzte Wort, das
sie zu ihm gesagt hat? Wie es wohl für sie war, in sein Zimmer zu gehen? Sie
konnte sich noch nicht einmal verabschieden. Nein, es war ganz und gar nicht in
Ordnung, aber diese Unordnung kommt nur ganz, ganz selten vor, so hoffte ich
damals.
Inzwischen erscheint es mir so, dass, kaum hat man einen
Tod betrauert, ein nächster kommt. Wie eine Faust, die aus dem Dunkeln immer
zuschlägt, wann sie will. Man sieht nicht, wann sie wieder zuschlägt, wen sie
trifft, aber man spürt es.
Eine weitere Person, die aus dem Leben gerissen wurde, war
eine Lehrerin an unserer Schule. Mitten in den Sommerferien bekam ich es mit.
Irgendjemand hatte ein Bild eines Berichts über eine gestürzte Bergsteigerin in
die Klassengruppe geschickt. Aber warum? Im Herunterscrollen fiel mein Blick
auf ein Wort „Frau P.“ Ich las den Chat zweimal und konnte es immer noch nicht
glauben. Sie war wirklich gestorben, unsere Lehrerin? Einfach gestürzt? War
sofort tot? Was war ihr letzter Gedanke gewesen? Was hatte sie noch für Ziele
gehabt? Hätte sie nur 5cm entfernt von der Kante gestanden, hätte sie noch ihr
Leben. Als ich den Artikel gelesen hatte, hatte ich zunächst an eine
unbestimmte Person gedacht. Irgendeine. Und für alle, die Frau P. nicht
kannten, ist sie immer noch irgendeine Tote. Zurzeit habe ich in ihrem alten
Klassenraum Unterricht und es fühlt sich immer noch komisch an. Ich sehe auf
alten Plakaten ihren Namen oder Zettel von ihr an der Wand hängen, als wäre sie
immer noch da. Als wolle ein unsichtbarer Geist einen daran erinnern, dass eine
Person fehlt und nie wieder zurückkehren wird. Ein Geist, der uns mahnt, das
Leben in vollen Zügen zu genießen.
Eigentlich müsste ich mein ganzes Leben lang dankbar sein,
dass ich leben darf. Warum gerät das nur so schnell in Vergessenheit? Wir
vergessen, dass das Leben kostbar ist, vergessen, dankbar zu sein und vergessen
zu genießen. Wenn mein Leben gut geht, wird es vielleicht 85 Unendlichstel lang
sein. Das ist zu kurz, um undankbar zu sein.
Der Tod ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Die
auslaufenden Ringe treffen jeden, der die verstorbene Person vermisst. Was habe
ich für ein Glück, dass ich bis jetzt immer weit weg genug vom einschlagenden
Stein stand. Hätten die Verstorbenen gewusst, dass sie so früh sterben, wie
hätten sie ihr Leben dann gelebt? Wie würde ich mein Leben gestalten, wenn ich
wüsste, dass es früh enden wird? Oder noch viel wichtiger: Wie würde ich
Mitmenschen behandeln, die früh sterben? Wenn ich wüsste, dass sie bald wie von
einem scharfen Messer von mir abgetrennt werden?
Der Tod gehört zum Leben, man kann versuchen ihn zu ignorieren, aber das hat wenig Sinn. Man kann ihm einen Sinn verleihen. Indem man sein Leben bewusster lebt.
Anna Franziska Stieler